Gezegen,
Manche Vornamen im Türkischen drücken ein Verlangen, einen Wunsch oder einen Traum der Eltern bzw. der Gesellschaft aus: Özgür (frei), Mutlu (glücklich), Bilge (weise), Barış (Friede), Devrim (Revolution)... Der Geburtsname deines Vaters auch ist ein davon: Özgür. Ziemlich viele Neugeborene wurden in den spaeten Siebzigerjahren in der Türkei Özgür genant. Damals war die Freiheit ein starkes Verlangen bzw. ein starker Wunsch der türkischen Gesellschaft. Der Traum von der Freiheit ist -noch- nicht verwirklicht worden und wird vielleicht immer unverwirklicht bleiben.
Wenn die Zeit kommt, wirst du dich sicherlich fragen, was zum Teufel das Gezegen nur bedeutet und in welcher Sprache. Und wenn du von relevanten Wörterbüchern oder Informationsquellen erfahren wirst, dass es im Türkischen bloss der Planet bedeutet, wirst du höchstwahrscheinlich dir sagen: "Soll das jetzt ein Name sein? Pah! Papa muss echt ein Dummkopf gewesen sein!" Gegen so eine Bezeichnung von dir haette ich keine Beschwerde gehabt, mein Lieber.
Schon heute kann ich mir einige seltsame Situationen in Bezug auf deinen Name vorstellen: Wenn z.B. deine Freundin dich mal fragen wird, was Gezegen heisst, würdest du wohl so "Nix. Nur der Planet". Und darauf wird sie wohl laut lachen: "der Planet?". Zum Glück hast du seinen ersten, ganz normalen Name, Mathis! Und ehrlich gesagt ist Gezegen im Türkischen auch kein normaler Name, wenn gar ein Name! Ich schaetze doch, du dist der einzige Planet in diesem Planet, auch in diesem Universum!
Gut, aber was ist bei deinem Name ein Verlangen oder ein Wunsch? Ich versuche mal, es kurz zu erklaeren:
Schon lange, bevor du geboren bist, hatte ich Interesse für die Politik. Heute nicht mehr. Ich war sehr beeindruckt von dem Leben und der Tragödie von Leo Trotzki, der Nummer 2 der russischen Revolution von 1917. In seinem Autobiografie, "Mein Leben", vom 1929 ist der Titel der letzten Teils "Der Planet ohne Visum". Das folgende ist ein wissenswerter Abschnitt:
"Ich muß gestehen, daß das Antreten der europäischen Demokratien zum Appell in der Frage des Asylrechts mir nebenbei nicht wenige lustige Augenblicke bereitete. Manchmal kam es mir vor, als wohnte ich der Inszenierung eines „paneuropäischen“ Einakters des Titels: Prinzipien der Demokratie bei. Den Text konnte Bernard Shaw geschrieben haben, wenn man zu der Fabier-Flüssigkeit, die in seinen Adern rinnt, einige Prozent vom Blute Jonathan Swifts hinzugegeben hätte. Wer aber den Text auch geliefert haben mochte, das Stück wurde ausnehmend lehrreich: Europa ohne Visum. Von Amerika ganz zu schweigen. Die Vereinigten Staaten sind nicht nur das stärkste, sondern auch das ängstlichste Land. Vor kurzem hatte Hoover seine Leidenschaft für den Fischfang mit dem demokratischen Charakter dieser Beschäftigung erklärt. Wenn das stimmt – was ich bezweifle –, dann ist dieser Sport eines der wenigen Überbleibsel der Demokratie, die in den Vereinigten Staaten erhalten geblieben sind. Das Asylrecht gibt es dort schon lange nicht mehr. Europa und Amerika ohne Visum. Diese zwei Kontinente aber beherrschen die ganze übrige Welt. Also bedeutet das – der Planet ohne Visum."
Auch wenn Trotzki es als eine bittere Wahrheit, eine bittere Festlegung geschrieben hat und es heute auch immer so ist, wollte ich es als eine Wunsch, einen Traum betrachten. Ein Planet ohne Visum: also ein Planet, der kein Visum kennt. Ein Planet, in dem man kein Visum braucht, weil es drin nicht mehr die Grenzen gibt.
Du wirst nicht daran erinnern, du hattest einst auf meine Frage immer wieder beantwortet: "Da Mathis heisst Mathis." Mathis wird immer Mathis heissen. Nun weisst du aber: Gezegen heisst der Planet ohne Visum! Sowohl als die bittere Realitaet wie auch als ein Traum!