Depressionen, Identitätskrise

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pauline09

Guest
(..)Entweder ist die Hemmschwelle für den Gang zur psychologischen Hilfe gesunken, durch Bildung die Erkenntnis das man ein Problem hat gestiegen. Oder die Menschen in hochentwickelten Ländern werden immer unglücklicher.

Letzteres eher nicht: Depressionen sind laut WHO in allen Regionen der Welt verbreitet, armen wie reichen. Irgendwo habe ich zwar mal gelesen, dass Finnland im weltweiten Vergleich an der Spitze steht; dort kommen Depressionen mit Abstand am häufigsten vor - aber vielleicht werden sie dort auch nur am häufigsten diagnostiziert und in anderen Regionen nicht oder wesentlich seltener als solches erkannt.

(...) Er tritt mit einem richtigen Problem zu euch und am Ende habt ihr es geschafft ihn in die Jammerecke zu verdrängen, wo er sich auch noch rechtfertigen muss. Ich möchte euch gerne mal sehen, wie ihr einer zum Beispiel Magersüchtigen erklärt:' Ach waaaaass, du bist doch gar nicht fett! Ach waaasss, du denkst du nur du wärst fett, du bist eigentlich sehr dünn, du bildest dir das doch nur ein! Ach koooommmm, stell dich nicht so an, reiß dich zusammen, ich achte auch auf meine Ernährung, aber man kann auch übertreiben! Stell dir vor, es gibt Menschen, die haben nichts zu essen und du beschwerst dich und jammerst und willst nichts essen? Jetzt sei nicht so sensible!'. (...)

Ganz starker Beitrag, Shiva! :) Er passt auch gut zum Anlass, den Thread wieder hochzuholen, statt einen neuen zu eröffnen: auf Twitter läuft zurzeit eine Debatte unter dem Hashtag #NotJustSad - lesenswert, glaubt man der "Neuen Zürcher Zeitung", die das Thema aufgegriffen hat:

Was heisst es, wenn man morgens aufwacht und sich verzweifelt fühlt, obwohl man einen Job, Freunde und eine Familie hat? Wie sieht man die Welt, wenn man ständig gesagt bekommt, dass das Leben lebenswert ist, man selbst aber nur ein schwarzes Loch sieht? Menschen, die an Depressionen leiden, können nur mit Paradoxien, Metaphern und vagen Bildern das Gefühl des inneren Verwelkens beschreiben. So wie die Internet-Nutzerin «Fräulein C», die ihre Niedergeschlagenheit auf Twitter folgendermassen erklärt: «Trauer, obwohl niemand gestorben ist. Einsamkeit, obwohl man nicht allein ist. Leere, obwohl man alles hat.»

Seitdem die Berliner Internet-Nutzerin «Jenna Shotgung» auf dem Online-Netzwerk Twitter mit dem Hashtag #NotJustSad ihre Depression thematisiert hat, schildern immer mehr Menschen in 140 Zeichen, was es heisst, eine Depression zu haben. Die Inneneinsichten sind bald poetisch, bald traurig und zumeist tief verstörend. Sie geben einen Eindruck davon, mit welchen Ängsten, aber auch gesellschaftlichen Stigmatisierungen die Betroffenen umgehen müssen. Obwohl Depressionen zu den häufigsten Krankheiten gehören, fühlen sich viele Erkrankte nicht richtig ernst genommen.

Hier geht es weiter: http://www.nzz.ch/feuilleton/sei-gluecklich-1.18425072

Ein Text, der mir wirklich gut gefallen hat. Auch in der Analyse möglicher Ursachen: "Solange wir an einer Gesellschaft feilen, in der scharf getrennt wird zwischen Versagern und Gewinnern, zwischen Reichen und Armen, zwischen Privilegierten und Schmarotzer, Hübschen und Hässlichen, Inländern und Ausländern und diese Klüfte sich auch noch ausweiten lassen, tragen wir Mitschuld am Leid der anderen. Depressionen sind psychische Krankheiten, die nicht nur auf biologischen Prädispositionen, sondern auch auf Ausgrenzungsmechanismen basieren, die in den westlichen Gesellschaften dramatisch zugenommen haben. Noch nie gab es so viele Menschen in Europa und den USA, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Sie alle blicken in eine trübe, ungewisse Zukunft."
 
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Pit 63

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Die Individualisierung in den freien pluralistischen/mulitkulturellen Gesellschaften birgt auch Gefahren. Das Problem würde ich als seelisch- geistige Atropie beschreiben.
Die Folgen sind eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung bis in die Beziehungen/Familien hinein, Egomanie, Reizüberflutung, Bindungsverluste, Frustration, Depression.
 
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pauline09

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Die Individualisierung in den freien pluralistischen/mulitkulturellen Gesellschaften birgt auch Gefahren. Das Problem würde ich als seelisch- geistige Atropie beschreiben.
Die Folgen sind eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung bis in die Beziehungen/Familien hinein, Egomanie, Reizüberflutung, Bindungsverluste, Frustration, Depression.

Bist du sicher, dass das Folgen sind? Oder handelt es sich um Ursachen? Bindungsverluste beispielsweise können auch Folge hoher beruflicher Mobilität sein; Reizüberflutung die Folge von Stress (Disstress, nicht Eustress). Damit meine ich nicht nur sog. Globalisierungsnomaden, die ungeachtet sozialer Bindungen ihrer Karriere hinterherziehen, sondern auch Pendler, die teilweise mehrere Stunden pro Tag damit beschäftigt sind, zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause zu fahren. Schon da wird es schwierig, regelmäßig Freundschaften und Kontakte zu pflegen.

Eine ausgeprägte Individualisierung ergibt sich m.E. auch als Folge eines Lebensstils, in dem die Unabhängigkeit des Individuums gesellschaftlich höher bewertet und als 'stärker' angesehen wird als die Zugehörigkeit zu einem - wie auch immer definierten - Kollektiv. Ich werte das nicht ausschließlich als negativ. Es hat seine Schattenseiten, das ist klar, aber vielleicht ist das der rationalste Weg, auf die Realität zu reagieren?
 
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nordish

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Ich bin der Meinung, dass die Diagnose Depression heute zu schnell gestellt wird.
Ausgebranntsein, (berechtigte) Unzufriedenheit oder Scheitern machen unglücklich, keine Frage... Aber steht hinter all dem jedes Mal eine Depression?
 
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pauline09

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Ich bin der Meinung, dass die Diagnose Depression heute zu schnell gestellt wird.
Ausgebranntsein, (berechtigte) Unzufriedenheit oder Scheitern machen unglücklich, keine Frage... Aber steht hinter all dem jedes Mal eine Depression?

Das musst du die Fachärzte fragen, die die Diagnose stellen. Sie richten sich nach dem ICD-10-Klassifikationssystem der WHO und dazugehörige Leitlinien. Die sind unter anderem hier einsehbar (einfach mal durchklicken, um die Kriterien nachzuvollziehen): http://www.depression-leitlinien.de/depression/7767.php

Schlauer machen kann man sich auch hier: http://www.buendnis-depression.de/depression/stiftung-deutsche-depressionshilfe.php

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Die WHO hat übrigens vor zwei Jahren ein sehr tolles, auch für Kinder geeignetes Aufklärungsvideo bei Youtube veröffentlicht, das vor einigen Monaten - nach dem Tod des ehemaligen Profi-Fußballers Andreas Biermann, meine ich - unter anderem vom "Stern" aufgegriffen wurde und durch soziale Netzwerke geisterte. Sehenswert!

 
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nordish

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Das musst du die Fachärzte fragen, die die Diagnose stellen. Sie richten sich nach dem ICD-10-Klassifikationssystem der WHO und dazugehörige Leitlinien. Die sind unter anderem hier einsehbar (einfach mal durchklicken, um die Kriterien nachzuvollziehen): http://www.depression-leitlinien.de/depression/7767.php
Ist mir bekannt, da bei mir eine leichte bis mittelschwere Depression diagnostiziert wurde (lt. der Hamilton-Depressions-Rating-Skala...Die Bearbeitungsdauer liegt im Mittel bei 15 Minuten( !!!) )... Völlig haltlose Diagnose, da ich in keinster Weise depressiv bin.
Aber hej, die gute Frau Nordish hat eine Angsterkrankung, das muss doch deprimieren. Die muss doch wenigstens leicht bis mittelschwer depressiv sein (als Folge der Angserkrankung).
Da kommst du auch nicht raus. Die Halbgötter haben doch die Diagnose gestellt.
Da redet und argumentiert man gegen Felswände.
Da kommen dann solche Fragen wie "Fühlen sie sich manchmal leer?", "Sind sie manchmal antriebslos?", "wird ihnen manchmal alles zuviel?" u.Ä.
Die geilste Frage ist folgende: "Denken sie manchmal über Tod oder Selbstmord nach?"
Ja, das tue ich.... (über den Tod aber nicht über Selbstmord, aber das wird nicht gesondert erfragt) Weil ich über alles mögliche nachdenke... Ich denke auch darüber nach, was der Sinn meines Lebens ist, und ob und wie ich am Besten mit dem Rauchen aufhören sollte und ob ich meine Wände im Flur Dunkellila streichen sollte, oder ob es dann zu dunkel wird...)
Klar bin ich manchmal antriebslos, fühle mich leer und überfordert.... Aber wer hat das nicht manchmal?
Ich empfinde solche Fragen als Fangfragen....
Aber dann werden Kreuzchen gemacht, ausgewertet und Bingo! Herzlichen Glückwunsch! Sie sind depressiv.
4In der Therapie wegen der Angsterkrankung, wurde ich aufgefordert über meine Sorgen und Nöte zu sprechen.... Klar dafür ist man u.A. ja auch da... Nur was wird daraus? Dadurch, dass man nur über seine Sorgen und Nöte redet kommt unweigerlich der Eindruck auf, man würde sich Morgen von einer Brücke stürzen.

Es gibt, mMn zu wenig gut ausgebildete Menschen, die solche Diagnosen zuverlässig stellen könnten.
 

Sithnoppe

Moderator
Hey, bei vielen ist so ne kleine Depression richtig in. Du bist nicht hip, wenn du gar keine Macke hast!
Und die Psychiater bedienen diesen Trend, ist ja schließlich ihr Kerngeschäft und ihre Existenzgrundlage (langfristiger Patientenkontakt).
 

Almancali

Well-Known Member
Nix was eine ordentliche Dosis Remergil nicht in den Griff bekommen könnte :)
Täglich 150mg davon und du schwebst von A nach B und all deine Episoden sind weg.
Nach ca. 2 Jahren rollst du dann von A nach B, wegen extremer Gewichtszunahme (20-40kg).

:D
 
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pauline09

Guest
Hey, bei vielen ist so ne kleine Depression richtig in. Du bist nicht hip, wenn du gar keine Macke hast!

Und warum ist es dann noch immer ein weitgehendes Tabuthema? So sehr, dass die Diagnose offenbar als kränkend empfunden wird? Etliche Leute testen erstmal obskure Selbsttherapien und fragwürdige Angebote aus, bevor sie professionelle Hilfen in Anspruch nehmen. Auch weil FA-Praxen oft überlaufen und Wartelisten zum Teil ellenlang sind.
Btw, dass Angststörungen und Depressionen oft Hand in Hand gehen, ist nicht so fürchterlich neu.

Und die Psychiater bedienen diesen Trend, ist ja schließlich ihr Kerngeschäft und ihre Existenzgrundlage (langfristiger Patientenkontakt).

So gesehen gehen alle Ärzte, egal welcher Fachrichtung, nur ihrem Kerngeschäft nach, nicht wahr? Wirklich geschäftsschädigend sind nur kerngesunde und tote Patienten.. ;)
 
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