AW: Frage an türkische Eltern
Zitat von rebel:
ich zweifel grade ziemlich an meiner erziehung, ich dachte immer ich wär nicht sonderlich konservativ erzogen worden, aber ich bin auch erst das erste mal woanders geschlafen als ich 11 war, also bei meiner ersten klassenfahrt. ist das denn nicht normal?
Doch, wenn es bei Dir so war, ist das eben normal gewesen. Das Lustige ist: ich staune gerade über
meine Erziehung, die offenbar nicht so streng war, wie ich immer geglaubt habe..
Zwar gab es eine ellenlange Liste von Dingen, die wir Kinder nicht durften (Neuerungen musste ich immer als Älteste durchboxen, nervig!), gute Umgangsformen inlusive Knicks und Diener, wenn Besuch kam, waren schwerstens erwünscht (und wehe, wenn nicht!) - aber wir durften durchaus bei Schulfreundinnen übernachten, und die, umgekehrt, auch bei uns. Das war so mit sieben oder acht Jahren, wenn ich es richtig erinnere, und das war immer klasse. Aber mit neun wurde ich das erste Mal zu Leuten geschickt, die ich nicht kannte und auch nicht mochte, zusammen mit meiner Schwester. Das fand ich ganz schrecklich und hatte ein paar Tage lang furchtbares Heimweh, aber zum Glück war meine Schwester dabei, und ihr ging es genau so. Wir haben uns dann gegenseitig getröstet.
Die erste Klassenfahrt fand später statt, auch mit elf. Das war aber okay.
Inzwischen hat sich aber doch eine Menge geändert, nach vorne verschoben. Ich kann nur sagen, wie ich's in meinem Umfeld erlebt habe, aber jede, buchstäblich jede Kita, die auf sich hält, veranstaltet Übernachtungsparties mit den Kindern, bevor sie eingeschult werden. Oder sie fahren ein Wochenende gemeinsam in irgendein Dorf in der nahen Umgebung, auch das gibt es. Alles freiwillig, klar, aber die meisten Kinder nehmen daran teil und sind ganz heiß darauf, mitzufahren.
Die erste Klassenfahrt steht dann in der Grundschule an, in der dritten oder vierten Klasse (bei meinem Sohn war's beispielsweise die 4.). Natürlich muss man ein Kind da nicht mitschicken, aber dann muss es den Unterricht in einer anderen Klasse besuchen, und seitens der Schulen wird das nicht sonderlich gerne gesehen. Wenn Eltern zum Beispiel, was durchaus vorkommt, die Kosten für Fahrt nicht aufbringen können, springen z.B. Schulvereine in die Bresche.
In der 5. Klasse, also nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule, gibt's dann wieder 'ne Klassenfahrt, oft schon in den ersten Wochen nach Schulbeginn, damit sich die Kids (so die offizielle Begründung) aneinander gewöhnen und die Klassengemeinschaft gestärkt wird.
Man kann das für sehr früh halten oder auch nicht, aber wenn ich mir andere Länder betrachte, wo Kinder (wie zum Beispiel in Frankreich oder auch England oder auch in der Ex-DDR) teils noch sehr viel früher und intensiver in die Obhut anderer Menschen gegeben werden oder wurden, finde ich das noch vergleichsweise moderat. Im Übrigen glaube ich, wie gesagt, nicht, dass es Kindern schadet. Natürlich wäre die Erziehung in der Familie das Optimum, der wünschenswerte Zustand, auch glaube ich, dass Kinder von den Strukturen einer Großfamilie ungeheuer profitieren können. Aber wo, bitteschön, ist das zumindest in durchschnittlichen deutschen Familien noch der Fall ?! Die Anzahl von Kindern liegt durchschnittlich bei 1,3, wenn ich's richtig im Kopf habe.
Mein Sohn ist ein Einzelkind, leider, ich fand das immer sehr schade, zumal ich mit Geschwistern aufwuchs, die ich auch heute noch sehr liebe. Aber es hat sich eben so ergeben. Mir persönlich ging's einfach immer darum, meinem Kind über die Bindung zu mir hinaus Kontakte zu anderen Menschen zu ermöglichen, vor allem auch Gleichaltrigen. Das finde ich einfach wichtig. Und ich verknüpfe damit die Hoffnung, dass seine Kinder-Freundschaften ihm in gewisser Weise die Geschwister ersetzen, die er nun mal nicht hat. Jedenfalls nicht bei mir. (Er hat, durch seinen leiblichen Vater, eine sehr viel jüngere Halb-Schwester; sie wohnen aber im Ausland und sehen sich nur in den Ferien. Mein Sohn kann mit ihr wegen des enormen Altersunterschieds zurzeit auch nicht so viel anfangen, die altersgemäßen Interessen sind halt sehr, sehr verschieden.)
Back to topic: Was ich weiter oben geschrieben habe, erklärt vielleicht meine Auffassung. Und, zusätzlich: Ich finde, man sollte auch nicht vergessen, dass es einfach eine Frage der jeweiligen kulturellen Gewohnheiten ist, ab wann man Kindern erlaubt, z.B. außer Haus zu nächtigen.
Ich kann Zerds Eingangs-These verflixt gut verstehen, einerseits, aber andererseits sehe ich sehr genau, dass es auch andere Methoden der Erziehung gibt, durchaus Möglichkeiten, Kinder (quasi kontrolliert) an der langen Leine laufen zu lassen - und ein Auge darauf zu haben, ob es ihnen gut geht damit. Wenn es ihnen gut geht, wenn sie sich wohlfühlen - why not? Der springende Punkt ist, glaube ich, wie Eltern selbst dazu stehen! Wenn man beständig nur liberal tut und sagt "ja, ja, mach nur, wenn du es für richtig hältst" - und gleichzeitig non-verbal vermittelt, dass das exakt so ziemlich das Letzte ist, was man sich tatsächlich wünscht, gibt's nur Verwirrung. Übrigens überall, auch in erwachsenen Beziehungen.
Kurzum, ganz platt und subjektiv: wenn ich meinem Sohn gestatte, an einer Klassenfahrt teilzunehmen (was selbstverständlich ist, wenn er das will), muss ich auch dahinterstehen. Muss ich ihm auch mit meinem Verhalten, meiner Haltung (in diesem Fall als Mutter) "erlauben", Spaß zu haben dabei. Wenn ich die Sache halbherzig angehe und Ja sage nur um des (Familien-)Friedens willen, in Wahrheit aber nicht dahinterstehe, wird ein Kind mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sensoren sofort schnallen, was in Wahrheit erwünscht ist: zu Hause bleiben, bei Mami und/oder Papi bleiben, bloß nix tun, was den Familienfrieden, den inneren Frieden, aufs Spiel setzt. Sehr begreiflich. Absolut nachvollziehbar, emotional. Und deswegen, gewagte These, glaube ich, dass die beiden Jungs sich bei dieser Klassenfahrt - verständlicherweise - nur für ihre Familie und deren Ängste entschieden haben -- auch wenn es nach außen so wirkte, als sei alles geklärt. Und die Eltern haben gemäß ihren Ängsten gehandelt, weil das in Wahrheit ihren Wünschen entsprach. Mit etwas mehr Gelassenheit hätte man doch einfach erstmal versucht, mit der Lehrerin zu telefonieren und die Chose zu klären? Oder?
Ich finde Rasims Einwand jedenfalls sehr, sehr berechtigt: Dass die Eltern sich vielleicht sehr allein gefühlt haben und (mein Gedanke dazu) vielleicht auch gar kein oder nicht ausreichend Vertrauen in deutsche Schulinstititutionen gesetzt haben.
Aber das sind nur mein Gedanken dazu. - Irre viel geschrieben, sorry, aber das Thema beschäftigte mich. -
lg
anouk