AW: Integration? Was ist das?
Im Übrigen ist es normal, dass man als eigentliches Opfer empfindlich reagiert, während man sich als Außenstehende bequem zurücklehnen kann und die Angelegenheit mit Hilfe neumodischer pädagogischer Mittel zu lösen versucht.
Am Besten verhelfen wir diesem Mitglied noch zu einem Türkeiaufenthalt ("Erlebnispädagogik").
.. was möglicherweise gar nicht mal das Schlechteste wäre, da er noch nie in der Türkei gewesen ist.
Allzu festgefügte Weltanschauungen erweitern und verändern sich ja nur im Kontakt mit dem Leben, nicht mit Theorien, die man so oder so nach Belieben selektiv herauspicken, inhalieren und ins ohnehin bestehende Weltbild einfügen kann.
Was allerdings diese Opfer-Geschichte betrifft, Kimyager, haben wir das Thema ja heute auch bereits in einem anderen Thread gestreift. Deswegen möchte ich es nicht allzu sehr vertiefen, gebe Dir auch recht, dass man als Betroffener auf Reizthemen in aller Regel weitaus angefasster reagiert als mehr oder weniger unbeteiligte Dritte - gleichwohl ist eine andere Sichtweise und Argumentation deswegen nicht automatisch weniger mitfühlend. Im Gegenteil, gerade das Bewusstsein, dass einem in einer bestimmten Lebensphase - oder auch längerfristig - individuell oder kollektiv Unrecht zugefügt wurde, kann dazu führen, dass man sich, statt verbittert zu werden und gewissermaßen zu resignieren, mehr Kenntnis aneignet.. mehr Wissen über bestimmte Strukturen, das es einem ermöglicht, aus der (eher von passiven Erlebensweisen bestimmten) Opfer-Haltung herauszukommen und zu begreifen, wo die eigenen Potenziale und Stärken liegen. Und die dann, blöder Ausdruck, aber trotzdem: gezielt zu kultivieren und innerlich zu begärtnern wie kleine Pflänzchen inmitten der eigenen Seele, aus denen mächtige Bäume heranwachsen können.
Es ist nicht wichtig, ob und wie andere Menschen einen betrachten; entscheidend ist die eigene Haltung zu sich selbst. Die Freude daran und der Stolz darauf, Mensch zu sein, mit einer unverwechselbaren, eigenständigen Persönlichkeit - ganz egal, wieviele Brüche es im Leben gegeben haben mag, wieviele (schmerzhafte) Enttäuschungen, Abschiede, Desillusionierungen..
Und glaube doch bitte nicht, dass nur ein einziger Mensch das Unrecht und alles Leid der Welt auf seinen schmalen Schultern allein zu tragen hat.. jeder von uns trägt sein Bündel, manche offen, andere eher im Stillen.. das ist normal. So traurig es scheint, aber das ist normal. So ist das Leben - zumindest so, wie ich es kenne und empfinde.
Und das ist im übrigen auch Integration, kann es sein: zu verstehen, einfach tief aus dem Gedärm heraus emotional zu begreifen, dass wir alle, egal, ob es nun kühl, weniger kühl, heiter oder im Tenor betroffen daherkommt, ganz ähnliche Sehnsüchte, Träume, Wünsche und Ängste haben.
Dass Enttäuschungen und Zurückweisungen, gleich, wie gravierend sie gewesen sein mögen, immer etwas Verletzendes an sich haben. Emotionale Erfahrungen lassen sich nun einmal nicht gegeneinander aufwiegen.
Für denjenigen, der davon betroffen ist, reichen sie immer tief (es sei denn, ein Mensch kennt keine Gefühle oder hat sich abgeschnitten davon, aber das steht auf einem anderen Blatt). Und Du kannst sehr versichert sein: wenn jemand, zumal Mar, eine Definition postet, ist auch das eine Form der Anteilnahme, einer vermittelnden Anteilnahme, die man aber manchmal erst im Abstand als solches erkennt. Oder vielleicht auch erst zu schätzen weiß - ...
Alles im Leben hat seine Zeit. Und irgendwann ist sie reif, wann auch immer, aber so wird es sein. Und das ist - zumindest nach meinen Erfahrungen - eine Art ungeschriebenes Gesetz: dass bittere Erfahrungen sich schleichend (und dann immer mehr) in ihr Gegenteil verkehren, sofern man den Mut fasst, Neues und Anderes zuzulassen, den Blick darauf zu lenken, und sich von gewohnten Denkmustern zu verabschieden.
Nur Mut!, oder, wie man in dem von Dir recht ungeliebten Italienischen sagen würde: Corragio!
In diesem Sinne,
anouk