Gemeint war, dass die Türkei schon seit langem, nach meinem Verständnis seit Atatürk, spätestens seit den verschiedenen Militärdiktaturen, den islamischen Zenit überschritten hat. Dorthin führt auch kein Weg zurück. Selbst im Iran ist der Islam nur eine Äußerlichkeit. Man muss ganz tief in die Provinz oder zu den Jihadisten reisen, um auf Gesellschaften zu stoßen, die vom Strom der Säkularisation nicht erfasst wurden.
Die Türkei und ziemlich zeitgleich auch die türkische Community hier in Deutschland hat eindeutig ab Ende der 70er Jahre in Folge der Machtergreifung Khomeinis, dem Iran-Irak-Krieg und der Regierungszeit Özals nach der letzten Machtergreifung des Militärs eine Islamisierung in dem von mir beschriebenen Sinne erlebt.
Es floss damals ziemlich viel Geld, vermutlich vor allem aus Saudi-Arabien in (sunnitische) religiöse Organisationen, religiöse Schulen wurden wiedereröffnet, die vormals noch verboten waren, ihre Absolventen erhielten großzügige Stipendien für Auslandstudien, es wurden sogar Holdings und Aktienfonds gegründet, die gezielt die religiöse Bevölkerung ansprachen und mit Verzicht auf Zinsen u.ä. warben.
Wir bekamen das auch in der süddeutschen Kreisstadt ganz konkret mit, in der ich damals lebte: während für die religiösen Bedürfnisse der türkischen Gastarbeiter seit Ende der sechsziger Jahre ein kleiner Raum im Arbeiterwohnheim ausreichte, wurden zwischen 79 und 82 allein drei Moscheen eröffnet, mehrere Korankurse für Kinder und Jugendliche angeboten, die es vorher auch nicht gab, und zahlreiche Männer mittleren Alters, die in den Siebzigern ihre Zeit noch mit Kartenspielen im Klubhaus meines Vaters verbrachten und an Wochenenden Fahrgemeinschaften bildeten, um das Bahnhofsviertel in Frankfurt zu besuchen, fingen plötzlich an, ihre gesamte Zeit in Moscheen zu verbringen und aus dem Koran zu zitieren. Und: der schlimmste Finger wurde natürlich zum Imam! Damals erfolgte die (Re-)Islamisierung der Bevölkerung quasi über Nacht und war mit Händen zu greifen.
Das ging etwas über ein Jahrzehnt so weiter, bis verschiedene Entwicklungen Anfang der Neunziger zu einem Umdenken und einer Art Modernisierung innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe führten. Und zwar wurde zum einen die Vorgängerpartei der AKP immer erfolgreicher, wobei einige Funktionäre (unter ihnen auch die späteren Funktionäre und Amtsinhaber der AKP-Regierung) immer wieder Ärger wegen verfassungsfeindlichen (eben antilaizistischen) Äußerungen bekamen. Als sie als kleiner Koalitionspartner in einer Regierungskoalition beteiligt wurden, gab es ganz konkrete Drohungen vom Militär, dass diese das nicht hinnehmen werde, weshalb es dann auch bald wieder Neuwahlen gab. Außerdem wurde die Partei verboten, ebenso wie ihre Nachfolgepartei und deren Nachfolgepartei, bis zuletzt von den reformorientierten Politikern dieser Parteien die AKP gegründet wurde. Und in dieser Phase gab es eben immer wieder auch Übergriffe von religiösen Eiferern und Fanatikern, von denen der Brandanschlag in Sivas eben der schlimmste und folgenreichste war.
Im Zuge dieser Entwicklungen setzte sich immer mehr die Überzeugung durch, dass der politische Islam in der Türkei nur eine Zukunft hätte, wenn sie auch für die gemäßigten Laizisten wählbar wurden, die bis dahin eher präferierte rückwärtsgewandte, fundamentalistische Auslegung des Islam überwunden wurde hin zu einer moderneren, mit der Moderne verinbaren Auslegung, für die dann eben die AKP stehen wollte und dann auch die ersten Wahlen, bei denen sie antrat, gewann.
Sie sah sich von Anfang an als demokratisch-konservative Partei und hat die Wahrnehmung als demokratisch-muslimische Partei sogar abgelehnt, was in den Nullerjahren auch im westlichen Ausland überwiegend so gesehen wurde. Aber die Betonkemalisten pflegten von Anfang an das Narrativ, dass es sich nur um einen Scheinwandel handelt und da der islamistische Wolf im demokratischen Schafspelz daherkommt, was in den Nullerjahren ein Hirngespinst war und von der Bevölkerung auch entsprechend mit Wahlergebnissen zwischen 10 und 20% quittiert wurde. Sie bekamen erst wieder Auftrieb im Laufe des letzten Jahrzehnts, als das Wirtschaftswachstum abflaute, immer mehr eine Distanzierung vom westlichen Ausland erfolgte die Polarisierung im Land im Zuge von Gezi, dem Putschversuch und der Syrienkrise sich immer mehr anspitzte.