AW: kann die Türkei atheistisch bleiben?
Selamün aleyküm,
Ich nehme an es geht um einen laizistischen Staat (laik devlet oder auf französisch état laic). Dabei geht es darum, dass die Religion konsequent Privatsache ist und aus der Politik herausgehalten wird. Der Einzelne kann natürlich trotzdem einer Religion angehören, solange er nicht versucht, religiöse Gesetze oder gar eine Diktatur auf Grundlage dieser Religion einzuführen wie z.B. im Irak.
Die Türkei ist, ebenso wie auch Frankreich laut Verfassung ein laizistischer Staat. Das Laizismusprinzip wurde von Mustafa Kemal Atatürk fest in der Türkei verankert, aber im Laufe der Zeit leider geschwächt. Menderes hat sunnitischen Religionsunterricht an den Schulen eingeführt. Und es wird sehr viel Geld für den Moscheebau, für die Imame und für Korankurse vom Staat ausgegen, und das alles aus allgemeinen Steuergeldern. Also auch von den Steuern die Aleviten und Christen zahlen. Wer ein Cemevi oder eine Kirche bauen will, muss erst eine Genehmigung beantragen (und oft sogar vor Gericht erstreiten) und dann auch alles selbst bezahlen.
Dass das alles nicht im Sinne Atatürks ist, ist klar. Wenn es die AK Parti also ernst meint, mit dem Laizismus, wird sie ein paar Reformen machen müssen. Immerhin haben sie den sunnitischen Religionsunterricht jetzt freiwillig gemacht. Das reicht aber nicht. Man muss auch den anderen Religionen die gleichen Gelegenheiten geben. Ich würde zum Beispiel vorschlagen, die Diyanet zu teilen. Sie ist ja eine komische Behörde. Einerseits soll sie die Religion(en) beaufsichtigen und andererseits verbreitet sie den sunnitischen Islam.
Ich finde, es sollte eine Behörde unter Kontrolle des Parlaments geben, dass alle Religionen beaufsichtigt, z.B. Baugenehmigungen für religiöse Gebäude erteilt, die Gesetzestreue der Religionen sicherstellt und so. Und als zweites mit echter Trennung eine Verwaltung der sunnitischen Religion, die von den Religionsprofessoren der Unis geleitet wird. So wie in Deutschland auch werden dann Verträge geschlossen zwischen dem Religionsaufsichtsamt und der sunnitischen Verwaltung, zum Beispiel über den Religionsunterricht. Die Religionsverwaltung macht die religiösen Inhalte und die staatliche Verwaltung passt auf, dass nichts extremistisches oder so reinkommt.
Und genauso wie die das Religionsaufsichtsamt sich gegenüber der sunnitischen Verwaltung verhalten würde, würde es sich auch gegenüber den Kirchen, der jüdischen Gemeinde und auch den Aleviten verhalten. Die alevitischen Kulturvereine könnten ebenso eine gemeinsame Religionsverwaltung wählen, die dann dem Staat als Ansprechpartner dient, eigenen Religionsunterricht machen, unter staatlicher Aufischt, etc.
Dann noch zur Finanzierung: Wie gesagt kann es nicht sein, dass auch Nichtsunniten mit ihren Steuergeldern das Sunnitentum finanzieren müssen. Die Türkei hat ja eben keine Staatsreligion. Deshalb bin ich für die sogenannte Mandatssteuer. Das bedeutet: ein gewisser Teil der Einkommenssteuer geht nicht an den Staat, sondern an eine religiöse Gemeinschaft nach Wahl des Steuerzahlers. Also zum Beispiel an die sunnitische oder alevitische Religionsverwaltung, an eine Kirche etc. Und wer keine Religion hat kann das Geld einem sozialen Zweck zuführen, zum Beispiel dem Roten Halbmond. Dieses System gibt's zum Beispiel in Ungarn und Italien, und der Unterschied zur deutschen Kirchensteuer ist halt, dass man das Geld auf jeden Fall einer Organisation zuführen muss. In Deutschland treten ja viele nur aus der Kirche aus, um die Kirchensteuer zu sparen.
Also nochmal zur Zusammenfassung: Die Türkei ist zwar ein laizistischer Staat, in der Praxis wird aber eine Religion stark bevorzugt. Wenn man den Laizismus retten will, muss man da Reformen machen, die alle Religionen gleichberechtigen.