Hmm, ließe sich mit demselben Gedanken nicht gleich gegen jegliche zwischenmenschliche Interaktion argumentieren? Denn ich denke, viel öfter, als Gesetz und Recht dazu missbraucht werden, Menschen zu übervorteilen und auszubeuten, versuchen Menschen schon im ganz normalen Alltag ohne jegliche Berufung auf Recht und Gesetz die Anderen zu übervorteilen und auszubeuten. Vielleicht sollten wir uns mit dem Leben gar nicht erst rumplagen, weil wir ja ohnehin alle sterben müssen.
Das mag jetzt etwas provokativ klingen, aber genau darauf läuft es meines Erachtens hinaus, wenn man sich vornehmlich auf eine oder bestimmte Sichtweisen oder Facetten einer Sache konzentriert und aufgrund dieses einen festen Zusammenhangs sein Urteil fällt. Wir haben immer mindestens zwei Möglichkeiten, die Dinge zu begreifen: entweder wir versuchen sie umfassend zu verstehen, ihren Sinn und Bedeutung zu erfassen, weshalb sie überhaupt entstehen und aufkommen konnten; oder wir beschränken uns auf die positiven oder negativen Ausprägungen, um für oder gegen bestimmte Veränderungen zu plädieren.
Das halte ich übrigens auch für einen der Hauptunterschiede zwischen einem vornehmlich östlich-fernöstlich geprägten Denken und dem westlichen Denken. Bei uns im Abendland gab es spätestens seit den Römern eine erhöhte Konzentration und Fixierung auf die Ziele, für sie war bspw. die griechische Philosophie und Wissenschaft überwiegend Mittel zum Zweck zur Verwirklichung ihres Imperialismus. Später bei der Ausbreitung und Institutionalisierung des Christentums wurde ganz ähnlich vorgegangen. Gerade wer sich mit den ersten Konzilen etwas eingehender beschäftigt, wird dort feststellen, dass es zwar durchaus noch Gruppen gab, für die Wahrheit und Authentizität noch von Bedeutung waren, sich schließlich aber die Ansätze durchgesetzt haben, die allein nach der Prämisse „Stärke und Handlungsfähigkeit durch Einigkeit“ vorgegangen sind. Machterhalt und Verbreitung waren das Gebot der Stunde, das sich im gewissen Sinne durch das ganze Mittelalter hier gezogen hat. Als dann in der Renaissance Wissenschaft und neuzeitliches Denken aufkamen, standen wiederum strategische Betrachtungen im Vordergrund: nicht das ganzheitliche Denken bspw eines Aristoteles standen im Vordergrund, sondern ganz im Widerspruch zu seinen logischen Gesetzen wurde das induktive experimentelle Verfahren zum Auffinden nützlicher Kausalzusammenhänge, die man verwerten (sprich: mit denen man rechnen) konnte, vorgezogen. Und bis heute hält diese Entwicklung an: was uns stark und reich macht, ist gut und wichtig, alles andere kann vernachlässigt werden.
Dieser Impetus fehlt dem östlich-fernöstlichen Denken weit gehend, wo viel stärker und viel länger auf Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit Wert gelegt wurde und eben nicht so sehr auf bestimmte „nur“ nützliche Kausalitäten zur Erreichung von Teilzielen. Diesen Unterschied muss man vor Augen haben, wenn man sich als westlich sozialisierter Mensch mit östlich-fernöstlichen Vorstellungen und Aussagen beschäftigt. Der hier vor kurzem erwähnte Ausspruch von Lao-Tse ist bspw viel umfassender als es die Interpretation als Ausspruch gegen Gesetze und Regeln vermuten lässt. Es ist von Verbrechern und Dieben die Rede, nicht von Verbrechen und Diebstählen, das macht in meinen Augen einen ganz entscheidenden Unterschied, der diesen Spruch eben nicht mehr als Argument gegen Gesetze und Regeln durchgehen lässt. Klar, Verbrecher und Diebe werden erst durch die entsprechenden Gesetze dazu, durch Definition. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Taten, die tatsächlich Verbrechen und Diebstähle sein mögen, erst durch die Regeln und Gesetze hervorgerufen werden. Lao-Tse war auch so ein Mensch, der die Welt und die Menschen vornehmlich verstehen und begreifen und beschreiben wollte, und dieser Spruch weist in einem Satz auf viele Facetten des Aspekts Regeln und Gesetze hin, auf ihre Unzulänglichkeiten ebenso wie auf ihre Notwendigkeiten. Nur hier im Westen wird man ihn vermutlich als Aufforderung oder Argument für eine bestimmte einschränkende Sichtweise für oder wider Gesetze und Regeln sehen.
Ich denke, wir benötigen Beides, sowohl das eher kontemplative eher ganzheitliche östliche Denken, als auch das eher analytische zielbeschränkte Denken im Westen. Und auch hier kommt es wieder, ich wiederhole mich da immer wieder sehr gerne, auf das richtige individuelle Mass an. Theodore Zeldins Buch „Eine intime Geschichte der Menschheit“ gibt zahlreiche Hinweise darauf, wie sehr unser grandioser wissenschaftlich-technischer Fortschritt gerade auf Kosten der menschlich-zwischenmenschlichen Entwicklung verwirklicht wurde. Auch hier geht es bei der Betrachtung sehr unterschiedlicher Einzelschicksale um den Verlust des übergeordneten irrationalen Rahmens, der den einzelnen Handlungen und Entscheidungen immer nur im Hinblick auf das naheliegendste Ziel Sinn und Bedeutung verleiht, wie der Hamster in seinem Rädchen, der läuft und läuft und läuft und doch keinen einzigen Schritt vorankommt.
Aber es besteht kein Zweifel: solange es Menschen und Leben überhaupt gibt, werden sie sich auch weiterentwickeln, das liegt einfach schon dem Leben selbst zugrunde. Mich würde einfach nur interessieren, in welche Richtung es wohl als nächstes gehen wird, denn mit unserem Wachstum und der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung haben wir Herausforderungen geschaffen, die weit über das bisher bekannte und übliche hinausgehen. Wie sollen, wie werden wir wohl damit umgehen, großflächig, mittelfristig, aber auch jeder für sich alleine individuell und täglich?...