Angesichts der Corona-Wirtschaftskrise geriet Erdogan ganz aus dem Fokus der Medien.
Glücklicherweise ist es auf unserer kleinen Insel hier nicht so. Hier wird Erdogan bei jedem noch so passenden und unpassenden Thema angeführt und hochgejubelt, sei es nun Corona, Neoliberalismus, Rechtsextremismus oder eben auch Glausmurmeln; immer findet sich ein kleiner Lautsprecher, der ganz nebenbei an ihn erinnern muss und immer auch ein Grüppchen von Claqeuren, die das bejubelt.
Eigentlich müsste sich Erdogan sorgen, wenn er irgendwann einmal tatsächlich aus dem Radar seiner Gegner verschwinden würde, denn schließlich haben insbesondere in den letzten sechs bis acht Jahren seine Gegner weit mehr zu seiner Popularität und Macht beigetragen als seine Anhänger: so viel Irrationalität und Unmenschlichkeit lässt man einem politischen Führer auf die Dauer nur durchgehen, wenn seine Gegner und damit die Alternative noch irrationaler und unmenschlicher anmuten.
Und, ganz unter uns, was könnte unmenschlicher und irrationaler anmuten als eine ganze Weltregion, die sich mit Kind und Kegel komplett und ausschließlich dem Profit, dem Wachstum, dem Konsum und dem Hedonismus verschrieben hätte und sonst keinerlei nennenswerte Visionen mehr für die Zukunft aufzubringen scheint. Oder etwa wie der türkische Staat im letzten halben Jahrhundert vor Erdogan, als ein gewählter Ministerpräsident aufgeknüpft wurde, dreimal das Militär die Macht übernahm, in einem Drittel des Landes permanenter Ausnahmezustand herrschte, im ganzen Land fast ein Jahrzehnt Bürgerkrieg tobte und ganze Generationen junger aufstrebender Intelligenz entweder außer Landes gejagt wurden oder in Gefängnissen landeten, wenn sie nicht gleich gekillt wurden.
Als noch schlimmeres in menschlicher Sicht könnte man sich doch wirklich nur vorstellen, wenn etwa Atombomben über dicht besiedeltem Gebiet abgeworfen werden würden; oder in einem sinnlosen Verteilungskrieg 50 Millionen Menschen in den Tod geschickt werden würden; oder die Welt mit einem Waffenarsenal übersät werden würde, das jegliches Leben auf dieser Welt mehrfach auslöschen könnte; oder wenn riesige Bevölkerungsgruppen eines ganzen Kontinents vertrieben, versklavt oder gleich in industriellen Anlagen vergast werden würden.
Aber he, hoppla, ist ja alles schon geschehen. Und zwar interessanterweise genau von solchen Leuten, die heute besonders eifrig den moralischen Finger heben, um damit auf die Grausamen "weit hinten in der Türkei" zu zeigen und damit einen künstlichen Dualismus von Gut und Böse zu kutlivieren, der immer schon dazu diente, nur noch mehr Hass und Unheil und Unrecht zu rechtfertigen.
Ich finde es vor diesem Hintergrund einfach nur lächerlich, wenn sich ganz normale Menschen als Anhänger der einen Mächtigen auf dieser Welt sich an anderen Mächtigen abarbeiten. Denn wenn wir uns, nur vorübergehend und zu Versuchszwecken, einmal von unserem arroganten Individualismus und Personenkult und Elitarismus lösen, der in der Regel alle größeren Entwicklungen nur einzelnen Personen zuschreibt und den großen Rest, der dazu beigetragen hat, in die Röhre schauen lässt (The Winner takes it all!), dann sollte uns in recht kurzer Zeit klar werden, dass die meisten Feindbilder, an denen man sich heutzutage abarbeitet, im Grunde nur Platzhalter sind, einzelne Individuen, die vor allem aufgrund eines tiefer liegenden Mechanismus und Prozesses genau dorthin gebracht wurden, wo sie sich gerade befinden.
Und solange dieser Prozess und Mechanismus noch weiter wirkt, ist dieses Abarbeiten an diesen Feindbilder nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver, der vor allem den ganzen Laden noch weiter am Laufen halten soll, indem eben von den eigentlichen Ursachen abgelenkt werden soll. Das gilt für alle als Feindbilder fungierenden politischen Führer ebenso wie auch für die Feindbilder im Neoliberallismus mit den Reichen und Superreichen. Enteignet oder entmachtet man den Einen, stehen gleich mindestens fünf neue parat, sein Vermögen und seine Macht zu übernehmen. Und in den meisten Fällen ist man damit zuletzt eher vom Regen in die Traufe geraten. Nur der ganze Zirkus, der rollt mit wachsender Wucht und Verheerung immer weiter.
Im Grunde gibt es mehr als genug Menschen, die sich wünschen, dass diese ganze Irrationalität und Unmenschlichkeit endlich aufhört und die auch wirklich etwas dafür tun wollen würden. Aber was tun sie überwiegend? Sie ziehen es vor, am aus dem Wasser ragenden sichtbaren Teil des Eisberges herumzukratzen, während sich tief unter ihnen ein Vielfaches von dem, das sie da oben abkratzen, an Eis neu bildet.
Es tut mir leid für all diejenigen, die sich wieder einmal persönlich angegriffen fühlen, wenn ich auf solche Zusammenhänge hinweise, aber es ist einfach nur lästig und ermüdend, diesem jämmerlichen Schauspiel immer nur still zusehen zu müssen, ohne darauf auf die eine oder andere Weise zu reagieren.