Lesenswert!: das jetzt erschienene Buch von Juan Moreno über den Relotius-Skandal beim "Spiegel".
"1000 Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus" (Rowohlt, 288 Seiten, 18 € als TB und 14,99 € als e-book) erzählt kühl, lakonisch und mit scharfem Blick, spannend, aber nicht reißerisch von dem Skandal, der nicht nur den "Spiegel" im vergangenen Winter in seinen Grundfesten erschütterte.
Bemerkenswert: Moreno, der den Hochstapler praktisch im Alleingang enttarnte und nach wie vor frei für das Hamburger Magazin schreibt, geht sorgsam und beinahe sanft mit seinem Brötchengeber um, schont ihn aber auch nicht. In seiner Einleitung schreibt er:
"Dieses Buch ist keine Abrechnung. Nicht mit dem "Spiegel". Nicht mit meinen damaligen Chefs. Nicht mal mit Claas Relotius. Auf der anderen Seite ist es auch keine Auftragsarbeit. Der "Spiegel" wird es nicht mögen. [...]
Und dann erfährt man, dass der "Spiegel", der allen Grund hätte, sich ausgiebig bei seinem freien Mitarbeiter zu bedanken, ihm "keinerlei Informationen, keinerlei Dokumente zur Verfügung gestellt" hat:
"Es fand keinerlei Kooperation statt. Meine Interviewanfragen wurden teilweise von der Rechtsabteilung geprüft und abgelehnt. Von einer "Rückendeckung", wie es hieß, kann keine Rede sein. Es wurde aber auch nicht versucht, das Buch zu verhindern."
Wenigstens das. Um die Kälte im Haus an der Ericusspitze auszuhalten, braucht's offenbar mehr Honorar, als andere Blätter zahlen oder enorm viel Herzenswärme, Integrität und Loyalität. Oder alles davon.
Moreno erzählt beispielsweise vom Making-Of der letzten großen Geschichte ("Jägers Grenze"), die Relotius schrieb, bevor der zum Ressortleiter aufsteigen sollte. Da Moreno gegen seinen Willen an dieser Reportage beteiligt war, zitiert er aus einer Mail seines damaligen Ressortleiters, die mehr mit einer dezidierten Regieanweisung als mit einem Recherche-Auftrag zu tun hatte. Er bewertet nicht, richtet nicht, er beschreibt nur, aber das genügt schon.
Denn natürlich gibt es sie, Ressortchefs und Chefredakteure, die 'ihre' Schlagzeile schon im Kopf haben und den Tenor einer Geschichte vorgeben, bevor auch nur ein Detail recherchiert, überprüft und das erste von vielen Interviews geführt ist. Die alles in Schwarzweiß wollen oder knallbunt, am besten vorgestern und jedenfalls so, wie die Realität meistens nicht ist. Das gibt es nicht nur beim "Spiegel". Und dass die Leute, die jahrelang ihre schützende Hand über den Fälscher hielten, beim "Spiegel" inzwischen weg sind vom Fenster, ist tröstlich.
Aber kein Freibrief. Denn wie und warum Claas R. so lange durchkam mit seinen Erzählungen, kann sich m.E. theoretisch jederzeit wiederholen. Überall. Zumindest dann, wenn der Tenor von Geschichten von vornherein feststeht, es kein (mindestens) Vier Augen-Prinzip gibt und keine Belege eingefordert werden.
Immerhin: das hat sich inzwischen geändert. Soll sich weithin geändert haben, heißt es. Nicht nur beim "Spiegel".
https://www.sueddeutsche.de/medien/moreno-relotius-tausend-zeilen-luege-rezension-1.4599762
https://www.welt.de/print/welt_komp...elotius-war-das-Gegenteil-eines-Blenders.html
"1000 Zeilen Lüge" ist ein verdammt gutes Buch. Ein spannendes, glänzend geschriebenes Buch, das man auch - und erst recht - lesen kann, wenn man nichts von Journalismus und schon gar nichts von Journalisten hält.
"1000 Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus" (Rowohlt, 288 Seiten, 18 € als TB und 14,99 € als e-book) erzählt kühl, lakonisch und mit scharfem Blick, spannend, aber nicht reißerisch von dem Skandal, der nicht nur den "Spiegel" im vergangenen Winter in seinen Grundfesten erschütterte.
Bemerkenswert: Moreno, der den Hochstapler praktisch im Alleingang enttarnte und nach wie vor frei für das Hamburger Magazin schreibt, geht sorgsam und beinahe sanft mit seinem Brötchengeber um, schont ihn aber auch nicht. In seiner Einleitung schreibt er:
"Dieses Buch ist keine Abrechnung. Nicht mit dem "Spiegel". Nicht mit meinen damaligen Chefs. Nicht mal mit Claas Relotius. Auf der anderen Seite ist es auch keine Auftragsarbeit. Der "Spiegel" wird es nicht mögen. [...]
Und dann erfährt man, dass der "Spiegel", der allen Grund hätte, sich ausgiebig bei seinem freien Mitarbeiter zu bedanken, ihm "keinerlei Informationen, keinerlei Dokumente zur Verfügung gestellt" hat:
"Es fand keinerlei Kooperation statt. Meine Interviewanfragen wurden teilweise von der Rechtsabteilung geprüft und abgelehnt. Von einer "Rückendeckung", wie es hieß, kann keine Rede sein. Es wurde aber auch nicht versucht, das Buch zu verhindern."
Wenigstens das. Um die Kälte im Haus an der Ericusspitze auszuhalten, braucht's offenbar mehr Honorar, als andere Blätter zahlen oder enorm viel Herzenswärme, Integrität und Loyalität. Oder alles davon.
Moreno erzählt beispielsweise vom Making-Of der letzten großen Geschichte ("Jägers Grenze"), die Relotius schrieb, bevor der zum Ressortleiter aufsteigen sollte. Da Moreno gegen seinen Willen an dieser Reportage beteiligt war, zitiert er aus einer Mail seines damaligen Ressortleiters, die mehr mit einer dezidierten Regieanweisung als mit einem Recherche-Auftrag zu tun hatte. Er bewertet nicht, richtet nicht, er beschreibt nur, aber das genügt schon.
Denn natürlich gibt es sie, Ressortchefs und Chefredakteure, die 'ihre' Schlagzeile schon im Kopf haben und den Tenor einer Geschichte vorgeben, bevor auch nur ein Detail recherchiert, überprüft und das erste von vielen Interviews geführt ist. Die alles in Schwarzweiß wollen oder knallbunt, am besten vorgestern und jedenfalls so, wie die Realität meistens nicht ist. Das gibt es nicht nur beim "Spiegel". Und dass die Leute, die jahrelang ihre schützende Hand über den Fälscher hielten, beim "Spiegel" inzwischen weg sind vom Fenster, ist tröstlich.
Aber kein Freibrief. Denn wie und warum Claas R. so lange durchkam mit seinen Erzählungen, kann sich m.E. theoretisch jederzeit wiederholen. Überall. Zumindest dann, wenn der Tenor von Geschichten von vornherein feststeht, es kein (mindestens) Vier Augen-Prinzip gibt und keine Belege eingefordert werden.
Immerhin: das hat sich inzwischen geändert. Soll sich weithin geändert haben, heißt es. Nicht nur beim "Spiegel".
https://www.sueddeutsche.de/medien/moreno-relotius-tausend-zeilen-luege-rezension-1.4599762
https://www.welt.de/print/welt_komp...elotius-war-das-Gegenteil-eines-Blenders.html
"1000 Zeilen Lüge" ist ein verdammt gutes Buch. Ein spannendes, glänzend geschriebenes Buch, das man auch - und erst recht - lesen kann, wenn man nichts von Journalismus und schon gar nichts von Journalisten hält.