Was denkt Ihr gerade? (38)

Zerd

Well-Known Member
Liebe Leute, jetzt tut doch bitte nicht so, wie wenn die Welt erst erschaffen wurde, als ihr zu twittern begonnen habt...

Schon in den 50er Jahren gab es zur Wiedereinführung der Bundeswehr eine intensive öffentliche Debatte, die offenlegte, wie viel nationaler Militarismus trotz der gründlichen Entnazifizierung im Westen verblieben war. Übrigens wurde zur selben Zeit in direkter Nachbarschaft meines jetzigen Wohnorts auf der Schwäbischen Alb ein von Sinti und Roma bewohntes Haus von einer hasserfüllten Meute abgefackelt, mit den Leuten darin. Und obwohl es heißt, dass das halbe Dorf jubelnd um das Feuer stand, konnte wohl kein Brandstifter ermittelt werden.

In den Sechzigern hat die Studentenbewegung so einiges von dem "Muff aus Tausend Jahren" aufgedeckt und etwa zur selben Zeit schaffte es die NPD erstmals, in regionalen Wahlen die 5-Prozenthürde zu knacken. In den Siebzigern war ich gerade mitten in der Pubertät, als plötzlich auf Brückenpfeilern und Unterführungen Schmierereien wie Türken Raus die Runde machten und ich in der Schule von Mitschülern, mit denen ich teilweise seit der ersten Klasse zusammen war, plötzlich mit "Scheißtürke" oder "Ausländer Raus"-Pöbeleien begrüßt wurde.

In den Achtzigern hatten wir einen Innenminister Zimmermann, der sich sogar bereit erklärte, den Türken einen Teil ihrer Rente im voraus auszubezahlen, wenn sie das Land für immer verließen. Für diejenigen, denen das noch nicht genug Ausländerhetze war, gab es noch den einen Huber mit seinen sehr popülären Republikanern damals. Und unser Bundeskanzler Helmut Kohl hielt es für ein sehr genröses Entgegenkommen, dass die Gastarbeiter doch bitte ab jetzt "ausländische Mitbürger" genannt werden, zwar immer noch mit einer eigenen ausgrenzenden Bezeichnung, aber immerhin.

Kurz nach der Wende brannte und klirrte es im Land gewaltig: Plattenbauten in Hoyerswerda, in denen Asylanten und Ausländer untergebracht waren, Türkenhäuser in Solingen und Mölln. So manche kleine Kristallnacht gab es damals, als innerhalb von wenigen Wochen hunderte Schaufenster türkischer Läden zu Bruch gingen. Huntingtons Clash of Civilzation machte damals die Runde und fand quer über alle Parteien interessierte bis begeisterte Leser.

Tja, und dann kam 9/11. 20 Idioten waren Grund genug dafür, eine Milliarde Moslems und sogar noch ihre völlig unreligiöse Sippschaft und Nachkommen an den Pranger zu stellen, eine ganze Weltregion derart in Chaos und Kriege zu stürzen, dass sie selbst nach 2 Jahrzehnten noch nicht zur Ruhe kommen und unter anderem für große Wanderschaften sorgen. Ich war damals Wissenschaftlicher Mitarbeiter und wurde eines Tages von meinem Insitutsleiter zu einem vertraulichen Gespräch herbeizitiert; er meinte, ich könne mich darüber freuen, dass meine Überprüfung ergebnislos eingestellt worden sei. Ich, der ich in diesem Land geboren war und schon als neunjähriger Grundschüler entschlossen hatte, nicht mehr an Gott zu glauben, der in seiner Jugend von ALtersgenossen gehänselt wurde, weil er nicht einmal das eine Mal im Jahr zu Bayram zu beten wusste, dafür aber die Judenbuche gelesen hatte und sich erinnerte, wie im Dritten Reich Generationen von Vorfahren durchforstet wurden, um irgendwelche jüdischen Einflüsse auszumachen, der war ohne sein Wissen gründlich darauf überprüft worden, ob er nicht irgendwie in die cihadistische Weltverschwörung verwickelt sei.

Und kann es einen dann wirklich überraschen, wenn kurz darauf ein Sozialdemokrat namens Sarrazin mit seinen kruden Thesen über die genetische Überlegenheit des weißen Mannes einen Bestseller landet?

Wer bei so einer Vorgeschichte behauptet, der seit Kriegsende sich immer mehr erholende und wiederbelebende und im neoliberalen Sozialdarwinismus neu beheimatete Rechtsextremismus hätte seine Ursache in irgendeinem Vorgang der letzten Jahre, dem wurde offenbar so gehörig ins Gehirn geschissen, dass diese braune Brühe ihn blind für das große Braune macht.
 

sommersonne

Well-Known Member
Das zu lesen macht wirklich traurig. Ich war auf der anderen Seite des Vorhangs, aber da war es, wie ich jetzt feststellen muß, auch nicht viel besser, nur versteckter.
 

Bintje

Well-Known Member
Nun lässt sich Geschichte immer als fortlaufendes Kontinuum lesen. Wendet man dieses Prinzip konsequent an und negiert Brüche, Weiterentwicklungen, geänderte politische Verhältnisse und Strukturen, könnte man beispielsweise auch das jüngste Säbelrasseln im Mittelmehr zwangsläufig als Fortsetzung der Osmanenkriege, Massenmorden bzw dem Völkermord an Armeniern oder blutigen Vertreibungen osmanischer Griechen darstellen, was natürlich einigermaßen grotesk wäre. So grotesk, wie die heutige Bundesrepubik und deren Gesellschaft in erster Linie als nazi-durchseuchte Nachfolgerin des Hitlerregimes zu zeichnen. Kann man je nach Interessenlage und Perspektive natürlich machen, klar, führt aber m.E. nicht weiter oder nur, wenn man voraussetzt, es mit ahistorischen Dumpfbacken zu tun zu haben, denen alles neu ist.
Kurzum: gelegentlich hat es schon Sinn, den Fokus auf (Teil-)Aspekte zeitgenössischer Entwicklungen zu richten, insbesondere dann, wenn man die letzten zehn bis 30 Jahre betrachtet. Ausweiten geht natürlich immer, hat je nachdem auch Sinn, aber bei 1945 ff. ansetzen, um die AfD zu beleuchten, finde ich ähnlich platt wie 2015 zum wesentlichen Nukleus zu erklären.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Aber 2015 war ein Einschnitt. Nicht so gravierend wie der Fall der Mauer, aber vielleicht vergleichbar mit dem Heißen Herbst 1977. Ereignisse, die die ganze Nation bewegen und auch polarisieren. – Viele politische Diskussionen sind nu für Interessierte bedeutend, andere interessieren sich für Fußball. Aber manche Ereignisse sind so bedeutend, daß wirklich alle daran Teil haben.

Stoiber meinte, ein solcher Zwist, ja, Haß bis tief in Familien hinein sei ihm nicht mehr erinnerlich seit der Diskussion um die Ostverträge.
 

Berfin1980

Well-Known Member
@Zerd danke für den Beitrag, es ist aber nicht der Fall das Nazis erst jetzt aus den Löchern gekrochen kommen, sie waren einfach nie weg.

Und genau deswegen gehe ich auch u.a. dagegen auf die Straße.

Man muss sich ja nur manche Argumentation hier durchlesen, genau die selben Aussagen oder sinngemäße verwenden AfD, NPD und und und...

Es ist wirklich beschämend....
 

Bintje

Well-Known Member
Aber 2015 war ein Einschnitt. (..)
Stoiber meinte, ein solcher Zwist, ja, Haß bis tief in Familien hinein sei ihm nicht mehr erinnerlich seit der Diskussion um die Ostverträge.

Dann wird er das so erlebt haben. Andere haben es anders erlebt, kein großes Drama daraus gemacht, sich teilweise an ihre eigene Familiengeschichte erinnert und einfach mit angepackt, um kriegsgebeutelten Neulingen den Start zu erleichtern. Das tun sie bis heute, zumindest im Norden. Weswegen man sich fragen muss, inwieweit individuelle Wahrnehmungen und biographische Erlebnisse generell empirisch evident sind (meines Erachtens nicht).

Ich fürchte, du hast recht. Ein großer Teil des doitschen Volkes, empfindet es so. Die große Umvolkung und so. Meine Güte, wie beschämend!

Noch einmal: Untersuchungen zufolge gibt es einen verfestigten Kern von ca. einem Viertel der Anhänger aller demokratischen Parteien, die rechtsextremen Glaubenssätzen und Forderungen zustimmen, wenn man sie nicht dezidiert als solche ausweist. Die Größenordnung schwankt je nach Studie und Erhebungszeitraum; mal sind es bis zu einem Drittel der Wahlberechtigten, mal weniger. Aber abgesehen davon, dass Schlaglichter wie statistische Befragungen z.B. unmittelbar nach den sexuellen Übergriffen auf der Kölner Domplatte eben nur geeignet sind, die verbreitete Stimmung eines Moments abzubilden, frage ich mich, wie Du auf eine derart pauschale und m.E. unzutreffende Aussage kommst?
 

sommersonne

Well-Known Member
es ist aber nicht der Fall das Nazis erst jetzt aus den Löchern gekrochen kommen, sie waren einfach nie weg.
Leider ist das so. Daraus ergibt sich das ein Teil der Deutschen nach dem Ende des Krieges nicht verstanden hat was sie Schreckliches getan hatten, indem sie Krieg, Verfolgung, Grausamkeiten, Holocaust zugelassen und mitgemacht hatten.
Das will nicht in meinen Kopf. Die Siegermächte haben die Bevölkerung damals gezwungen (zu Recht) sich die Toten, die Berge von Schuhen usw. in den Konzentrationslagern anzusehen. Spätestens dann müßte ihnen doch aufgegangen sein was da für ein Wahnsinn passiert ist. Wie kann man das ignorieren, vergessen, verdrängen und verleugnen und dann auch noch die Kinder mit positiven Erinnerungen an diese Verbrechen vergiften? Ich werde das nie verstehen und will ich auch nicht.
 

EnRetard

Well-Known Member
Aber abgesehen davon, dass Schlaglichter wie statistische Befragungen z.B. unmittelbar nach den sexuellen Übergriffen auf der Kölner Domplatte eben nur geeignet sind, die verbreitete Stimmung eines Moments abzubilden, frage ich mich, wie Du auf eine derart pauschale Aussage kommst?
Meinst du mich? Du nennst ein Viertel bis ein Drittel, ich sage "ein großer Teil". Findest du jetzt nicht, dass ein Viertel oder gar ein Drittel ein großer Teil ist?
 
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