Ich finde die Sache mit dem Tabubruch einfach nur scheinheilig.
Der Ansicht bin ich auch, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang.
In den frühen Siebzigern hatte ich einen Deutsch-Lehrer, dessen Foto als junger SS-Offizier im Dritten Reich den Schüler wohl bekannt war, und der den um einige Minuten zu spät im Unterricht erschienenen Zerd schon einmal mit Kommentaren wie "wir wollen nicht, dass hier Verhältnisse wie bei den Türken aufkommen" begrüßt hat. Als mich vor etwa drei Jahren mein neuer Vermieter darauf hinwies, dass ich die speziell dafür angefertigten Leinentücher an der Glasfront meiner Wohnung doch bitte nur an den heissesten Tagen des Jahres aufhängen solle, hieß es wieder "es soll nicht der Eindruck entstehen, hier würde gehaust wie bei den Türken"!
Zwischen diesen beiden Aussagen liegen vier Jahrzehnte mit wechselnden Regierungen, in denen sich an der latenten Fremdenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung nicht wirklich etwas geändert hat; solange keine Häuser brannten oder die durchs Land fegenden Mörderbanden gedeckt werden konnten, wurde sie befeuert durch die Politik, um dann wieder ganz verstört und traurig dreinzublicken und sich zu fragen, wie das nur passieren konnte. Der durch den Wirtschaftsliberalismus geförderte Sozialdarwinismus, zu dem es gehört, nach oben zu wedeln und nach unten zu bellen, hat dabei sein übrigens getan.
Geradezu heuchlerisch finde ich es dann, wenn sich im Jahr 2020 jemand hinstellt und behauptet, diese Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung sei darauf zurückzuführen:
Als Frau Immerkanzlerin meinte, lasset die Kindlein zu mir kommen, hat sie dem Rechtsruck nicht nur in Deutschland auf die Erfolgsleiter geholfen, sondern in ganz EU.
Denn tatsächlich war Frau Merkels Entscheidung damals eine der ganz wenigen Maßnahmen in den vergangenen Jahrzehnten, die diesem allgemeinen Trend entgegengesetzt war und genau in eine Zeit fiel, in der durch die patriotischen Europäer und ihre politischen Ableger dieser Hass gerade befeuert wurde. Sie hat selbst mich positiv überrascht, der ich seit Brandts Abgang nicht wirklich von einem Politiker je wieder überrascht worden bin.
Natürlich fühlte sich die Schar an latenten Faschisten und Fremdenfeinden in ihrem heimeligen Nest dadurch gestört und die Empörung war groß. Und diesmal war sie auch tatsächlich echt im Gegensatz zu den vielen Malen, in denen nur betröppelt dreingeguckt wurde, um anschließend genauso weiterzumachen wie gehabt. Aber dieser Konflikt war schon längst nötig; er hätte schon seit Jahrzehnten angegangen und gelöst werden müssen. Ich bin Frau Merkel sehr dankbar dafür, dass sie ihn endlich in die Mitte der Gesellschaft getragen hat und diese sich nun endgültig darauf festlegen muss, wie sie mittel- und langfristig mit ihren Mihigrus ebenso wie mit ihren fremdenfeindlichen Faschisten umgehen will.
In diesem Prozess befinden wir uns meiner Ansicht nach gerade und deshalb ist für mich der Vorgang in Thüringen auch kein Tabubruch, sondern eine weitere offene Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Lagern in dieser Gesellschaft, von denen nur eine die nächste Zukunft prägen kann. Das letzte, was ich mir wünsche würde, wäre, dass dieser Konflikt diesmal wieder mit einem halbgaren Kompromiss beigelegt wird, bis zuletzt bei entsprechender wirtschaftlicher Entwicklung der offene Faschismus landesweit gar nicht mehr abgewendet werden kann.