Es ist, wie wenn man gegen eine Mauer redet. Und es macht dabei auch überhaupt keinen Unterschied, wie viele und welche Argumente man vorbringt, wieviel man über das Thema weiß oder eben nicht weiß und wie sich die Dinge zuletzt entwickelt haben oder gerade entwickeln.
Und diese Situation ist auch alles andere als neu. Schon vor sieben Jahren während der Gezi-Proteste, die hier monatelang intensiv bejubelt wurden, hatten wir die identische festgefahrene Konstellation. Auch damals stand ich vor einem Heer von Protestbefürwortern, die es zwar (fast) alle gut meinten, aber ansonsten kaum etwas darüber zu wissen schienen, wie sich das Land in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, wie sich die aktuelle Situation darstellt, Erdogan völlig verkannten und auch nichts wussten über die ziemlich inhomogene Zusammensetzung der eine Zeit lang immer weiter wachsenden Bewegung .
Auch damals versuchte ich die Leute zu informieren (weil sich ein alter Freund und Mitbewohner schon in der Anfangsphase dem Protestcamp anschloss und bis zu ihrer Auflösung dort blieb, hatte ich auch Informationen aus erster Hand, die ich einigermaßen einschätzen konnte) , habe in langen Beiträgen meine Einschätzung ausführlich zu begründen versucht, weshalb es unter den gegebenen Umständen und Voraussetzungen wahrscheinlich schien, dass eine weitere Eskalation der Proteste eher den gegenteiligen Effekt haben , also Erdogans Position stärken und die der Opposition noch weiter schwächen werde, aber es war kein Ankommen gegen diese völlig verschlossene einheitliche Mauer, die sich auch noch gegenseitig permanent bestätigte und aufschaukelte (dabei hätte allein schon diese Einheit und Gruppendynamik selbst für einen uninformierten außenstehenden aber kritischen Betrachter Anlass zu höchster Vorsicht und Skepsis sein müssen).
Die ganze Community war wie im Taumel, man verstand mich einfach nicht, versuchte es nicht einmal, belustigte sich darüber, wie jetzt auch, dass ich so alleine mit meiner Meinung dastehe; schon nach wenigen Beiträgen war ich abgestempelt als ein Erdogan-Anhänger , der auf verlorenem Posten seinem Herrn zu dienen und die Protestbewegung zu diskreditieren versucht (eine gröbere Fehleinschätzung ist kaum möglich!). Alle waren sie ohne jeden Zweifel davon überzeugt, dass die Protestbewegung immer weiter anwachsen und zuletzt dazu führen wird, dass Erdogan abdankt oder zumindest die nächsten Wahlen nicht überstehen wird.
Aber es kam dann doch, wie es kommen musste: der Protest wurde niedergeschlagen und Erdogan gewann nicht nur die folgenden Wahlen, sondern noch einige mehr, hat einige Jahre später sogar einen Putschversuch überstanden, bei dem seine Anhänger auf seinen persönlichen Aufruf hin massenweise auf die Straßen stürmten, um sich ggf Soldaten und Panzern entgegenzustellen, hat in einem legalen demokratischen Vorgang seine Machtbefugnisse erweitert und sammelt weiterhin fleißig Punkte in seiner Anhängerschaft, obwohl er sich mittlerweile wesentlich mehr Entgleisungen erlaubt und wesentlich strenger gegen seine Gegner vorgeht als noch vor den Protesten, wobei ihn die Community hier ja schon damals als Tyrannen und Diktator ansah, was damals schon völlig übertrieben war und selbst heute noch nicht zutrifft.
Und auch wenn die letzten sieben Jahre meine damalige Einschätzung weitgehend bestätigt und die ignoranten Träumer von damals Lügen gestraft haben, stehen wir heute quasi mit denselben Leuten wieder genauso da wie damals.
Vielleicht hilft euch eine Analogie aus einem Bereich, in dem ihr euch etwas besser auskennt als in der türkischen Geschichte und Gesellschaft. In gewisser Weise waren die Gezi-Proteste damals in der Türkei vergleichbar mit den Corona-Protesten heute hier. Auch damals gab es anfänglich eine durchaus berechtigte und nachvollziehbare Forderung der Protestler, sie wollten den Park erhalten, wo die Stadtverwaltung stattdessen eine Mall in der Optik einer vormals dort gestandenen historischen Kaserne bauen wollte. Damit war ein Großteil der Bevölkerung einverstanden, ganz gleich, wie sie zu Erdogan standen.
Genauso bei den Corona-Protesten, ursprünglich ging es ja darum, eine gründlichere Abwägung zwischen den Bürgerrechten auf der einen Seite und dem Infektionsschutz auf der anderen Seite zu fordern. Auch das (also das Recht, dafür auf die Straße zu gehen) wird wohl ein Großteil der Bevölkerung hier gutheißen, ganz gleich, wie sie im einzelnen zu den bisherigen Maßnahmen stehen mögen. Aber ganz ähnlich, wie diese durchaus berechtigte und nachvollziehbare Demonstration von zahlreichen Trittbrettfahrergruppen aus dem rechten Spektrum, von Ewiggestrigen, Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern überrannt wurde, die ganz andere Ziele verfolgten und die Demo zu einer Bühne für ihre abstrusen Vorstellungen und Ziele instrumentalisierten und sie dann als Bestätigung dafür hinstellten, wie sehr sich das Volk die Absetzung der Regierenden und eine neofaschistische Zukunft wünschte (was wohl die meisten hier mit Kopfschütteln und Fingertippen auf die Stirn quittieren würden), genauso wurde auch damals der Gezi-Protest im Laufe der Zeit gekapert von solchen Gruppierungen, meist Kemalisten, die sich eine Rückkehr der alten Verhältnisse herbeisehnten, in denen ihr geliebtes Militär alle zehn Jahre das Parlament stürzte und die Ordnung wieder herstellte und in denen die Hälfte der Bevölkerung diskriminiert und vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt wurde, und einige versprengte altlinke Gruppierungen, die in der türkischen Republik immer schon einen schweren Stand hatten und permanent ein Doppelleben zwischen Legalität und Untergrund führen mussten, auch unter Erdogan.
Genauso wie am letzten Samstag die Barrikaden vor dem Reichstag gestürmt wurden, was mit dem ursprünglichen Anlass des Protestes und dem Ansinnen der Mehrheitsbevölkerung gar nichts mehr zu tun hatte, genauso nahmen damals auch mit der Zeit die Gezi-Proteste immer mehr weltfremde und wüste Züge an, ganze Viertel wurden verwüstet, Barrikaden errichtet, um die Einsatzkräfte vom Einschreiten abzuhalten, Busse wurden verbrannt etc. Und von den Protestlern ebenso wie der internationalen Presse wurde das einheitlich so dargestellt wie der letzte verzweifelte Aufschrei einer unter der erbarmungslosen Knute Erdogans ächzenden Bevölkerung, was mit den tatsächlich in der Türkei herrschenden Verhältnissen nicht das geringste zu tun hatte.
Was würdet ihr davon halten, wenn die Demo am letzten Samstag vom gesamten Ausland einhellig als eine Bestätigung dafür angesehen würde, wie unzufrieden die Mehrheit der Bevölkerung mit der Regierung ist, wie sehr sie sich einen Umsturz herbeisehnt und wie sehr die drei Polizisten, die die Demonstranten davon abhalten sollten, in den Reichstag zu dringen, als Beweis für einen Polizeistaat angeführt würden?
Und welchen Effekt hatte diese Eskalation? Der bereits genehmigte Stand gegen die Corona-Maßnahmen wurde verboten, Demonstrationsrechte eingeschränkt und die Regierung, die derart angefeindet wurde und deren Vorgehen in der Corona-Krise schon vor den Demos von der Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wurde, ist nur gestärkt und bestätigt aus dieser Eskapade hervorgegangen. Ganz ähnlich hat damals Erdogan reagiert und profitiert.
Natürlich hinkt die Analogie ein wenig, weil in Deutschland im Hinblick auf ein gefestigtes Demokratieverständnis, dem Umgang mit Minderheitsmeinungen und der Gewaltbereitschaft andere Maßstäbe herrschen und weil Deutschland vom wesentlichen westlichen Ausland nicht als unterentwickelter Außenseiter angesehen wird. Aber diese Unterschiede müssen bei einer realistischen Einschätzung der Vorgänge auch berücksichtigt werden, wenn man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen will. Ansonsten war es ein ganz ähnlicher Vorgang, der zumindest von unvoreingenommenen Betrachtern mit Kenntnis der Umstände so wahrgenommen wurde.
Im Grunde sind es Selbstverständlichkeiten, wofür ich hier in diesem Zusammenhang immer wieder plädiere: statt einfach Nachzuplappern auch mal den eignen Verstand einsetzen, Vorurteile durch gut begründete und in sich stimmige Urteile zu ersetzen, sich hin und wieder auch mit anderen als bloß mit der eigenen Perspektive zu beschäftigen, mehr Verständnis als Polemik anstreben etc. Das geziemt sich doch für einen aufgeklärten Menschen. Nach Kant ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Und Seume fügt hinzu, wo es keine Sklaven gibt, da gibt es auch keine Tyrannen!
Wenn wir es uns dagegen einfach machen und immer nur Haltungen und Methoden übernehmen, die wir eigentlich bekämpfen und überwinden wollen, dann ist es doch abzusehen, dass wir bestenfalls nur auf der Stelle treten, wahrscheinlicher aber vom Regen in die Traufe geraten. Auch dazu gibt es einen schönen Vierzeiler von Dahn, mit dem ich hier auch abschließen will:
Die Philister waren arge Tyrannen;
Die Genies, die jagten sie von dannen.
Kaum waren die Genies Minister
Trieben sie’s ärger als die Philister.