lieber Zerd

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Majnomon

Well-Known Member
Du sollst mir also nicht erklären, wie ich es gutheissen kann, sondern warum ich (oder irgendjemand) es überhaupt gutheissen sollte, warum er diese Grenze erweitern oder überschreiten sollte. Um auf Deine Matheaufgabe zurückzukommen: es geht nicht darum, wie die Aufgabe gelöst werden soll, sondern was die eigentliche Aufgabe überhaupt ist, warum sie gelöst werden soll.

Eigentlich steckt die Antwort schon in Deiner Frage: Grenzüberschreitungen tragen das Potential in sich, den geistigen Horizont zu erweitern, bestenfalls hin zur (göttlichen) Liebe, um mit ihr zu verschmelzen und eins zu werden.

Im Falle der Geschichte von Mevlana dürfte es allerdings ausschließlich um die metaphorische Bedeutung gehen. Wenn sie Dir in ihrer Drastik vor den Kopf stößt und Deinen Widerwillen hervorruft, hat sie ihren Zweck womöglich schon zur Hälfte erfüllt. Die andere Hälfte würde sich wahrscheinlich jenseits des gewöhnlichen Verständnisses von richtig und falsch im "Herz der Herzen" erfüllen, sobald Du es zulassen kannst.

Leider verstehe ich Eure türkischen Ausführungen nicht, so dass ich den Verlauf der Diskussion nur eingeschränkt nachvollziehen kann.

Falls ich deshalb völlig am Thema vorbeigeschrieben haben sollte bitte ich um Nachsicht.
 

Zerd

Well-Known Member
Eigentlich steckt die Antwort schon in Deiner Frage: Grenzüberschreitungen tragen das Potential in sich, den geistigen Horizont zu erweitern, bestenfalls hin zur (göttlichen) Liebe, um mit ihr zu verschmelzen und eins zu werden.

Im Falle der Geschichte von Mevlana dürfte es allerdings ausschließlich um die metaphorische Bedeutung gehen. Wenn sie Dir in ihrer Drastik vor den Kopf stößt und Deinen Widerwillen hervorruft, hat sie ihren Zweck womöglich schon zur Hälfte erfüllt. Die andere Hälfte würde sich wahrscheinlich jenseits des gewöhnlichen Verständnisses von richtig und falsch im "Herz der Herzen" erfüllen, sobald Du es zulassen kannst.

...

Majnomon, das war ja gerade mein Ausgangspunkt, dass ich das eben nicht zulassen möchte, solange ich den weiterführenden SInn darin nicht erkenne. Was Du über Grenzüberschreitung hin zum Göttlichen sagst, dem kann ich durchaus bis zu einem gewissen Punkt folgen, wenn es eben um diesen dunklen Bereich geht, der sich meiner unmittelbaren Erfahrung und Wahrnehmung entzieht.

Aber in dieser Geschichte geht es eben nicht darum, Gott und Glauben zu vertrauen, sondern dem Urteil des Herrschers. "Das Volk muss das nicht verstehen" sagt er an einer Stelle. Das ist eindeutig weltliche Deutung in meinem Verständnis, hier geht es nicht mehr darum, das Bewusstsein in einen Bereich zu erweitern, der sich meinen unmittelbaren Sinnen und Vorstellungen entzieht, sondern um Hörigkeit dem Vorgesetzten aus Fleisch und Blut gegenüber.

Es mag eine Zeit gegeben haben, in der auch die Gefolgschaft dem Herrscher gegenüber wesentlich war für das Überleben einer Gemeinschaft, etwa gegenüber einem äußeren Feind; oder in der Wissen nicht jedem zugänglich war und darum ein Vertrauen denjenigen gegenüber angebracht war, die Zugang dazu hatten, wie etwa der Sultan. Aber ein "Du brauchst nicht alles verstehen, was Dein Herrscher (oder Dein Mann!) für Dich vorsieht" ist eine Erwartung, die eine Grenze bildet, über die ich nicht wieder zurückkehren möchte.
 

Majnomon

Well-Known Member
Aber in dieser Geschichte geht es eben nicht darum, Gott und Glauben zu vertrauen, sondern dem Urteil des Herrschers. "Das Volk muss das nicht verstehen" sagt er an einer Stelle. Das ist eindeutig weltliche Deutung in meinem Verständnis, hier geht es nicht mehr darum, das Bewusstsein in einen Bereich zu erweitern, der sich meinen unmittelbaren Sinnen und Vorstellungen entzieht, sondern um Hörigkeit dem Vorgesetzten aus Fleisch und Blut gegenüber.

Dass "das Volk" das nicht verstehen muss, würde ich hingegen so deuten, dass die Masse der abgestumpften Bevölkerung (heutzutage vielleicht versinnBILDlicht im durchschnittlichen Blödzeitungsleser und ihrer einflussreichen Redakteure) die spirituelle Dimension dieser Geschichte mangels geistigen Fassungsvermögens schlicht nicht verstehen kann, so wie der biblischen Überlieferung nach Jesus in Gleichnissen gesprochen hat, deren tieferen Sinn er nur seinen engsten Vertrauten erklärt hat.

Damit drückt sich aber nicht automatisch aus, dass Rumi dem Volk Gehorsam gegenüber den Herrschenden verordnet, nur weil seine Geschichte von einem Sultan handelt, der seinen Nebenbuhler tötet.

Ich würde die spirituelle Ebene der Geschichte an keiner Stelle verlassen, da sich ihre Intention (Liebe) sonst in ihr Gegenteil (Rechtfertigung von Gewalt/Zwang/Versklavung) umkehrt.


Das passiert leider bei jedem buchstäblichen Verständnis religiöser Schriften. Und zwar sowohl auf Seiten ihrer blindgläubigen Anhänger als auch auf Seiten ihrer vermeintlich aufgeklärten Kritiker.
 
Zuletzt bearbeitet:

Majnomon

Well-Known Member
Wörtlich würde ich die Geschichte nur insofern nehmen, dass sie als Einladung dient, dem sexuellen Trieb tatsächlich genug Raum zu geben, bis seine Bedürfnisse in ihrer Oberflächlichkeit gestillt sind und ihre Gier "sterben" kann.

Vom Tonus her gefällt sie mir deshalb sogar besser als die moralisierende Frömmelei im Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Neuen Testament, wo die Phase der Ausschweifung nicht als Heilmittel, sondern als Sünde bezeichnet wird.
 

Zerd

Well-Known Member
Majnomon, ich glaube Dir gerne, dass Du die Geschichte so lesen und begreifen kannst, dass sie für Dich nichts fragwürdiges mehr enthält. Mir gelingt es an solchen Punkten nicht mehr, ebenso wie an einigen Stellen des Korans, in denen es um die untergeordnete oder in Deinem Duktus vielleicht "besondere" Rolle der Frau geht. Da bildet meine eigene intellektuelle Sozialisation einfach eine unüberwindbare Grenze, mein ganzes historisches Wissen um grausame machthungrige Herrscher, mein Wissen um die Fehlbarkeit der Menschen oder meine Wertschätzung für Frauen als selbstbewusste eigenständige Menschen.
 

Majnomon

Well-Known Member
Zum Koran will ich mich an dieser Stelle gar nicht äußern.

Aber ich verstehe nicht, warum Dich die Grausamkeit des Menschen daran hindert, einer Geschichte eine positive Deutung zu entnehmen, die gerade die Grausamkeit eines lieblosen Daseins zu überwinden sucht...

Aber gut, jeder wie er kann und will.
 

Zerd

Well-Known Member
...

Aber gut, jeder wie er kann und will.

Genau!

Ich bin in einem türkischen Haushalt hier in Deutschland aufgewachsen und mit beiden Kulturkreisen aufgeschlossen umgegangen. Ich habe das immer als eine Bereicherung empfunden, u.a. weil ich dadurch einen Vergleich und eine Auswahl hatte und mir schon sehr früh Gedanken darum machen konnte, was ich im jeweiligen Kulturkreis schätze und was dagegen ablehne.

Im deutschen Kulturkreis empfand ich es bspw immer befremdlich, wie sehr alle Lebensbereiche durchrationalisiert waren und Gefühle zu haben und sie gar zu zeigen, emotional zu handeln, als eine Schwäche und Unzulänglichkeit angesehen wurde. Das war im türkischen Umfeld ganz anders und viel menschlicher nach meinem dafürhalten.

Im türkischen Kulturkreis dagegen hat mich immer diese irrationale Hörigkeit gegenüber der Obrigkeit abgestossen, solche allgegenwärtigen geflügelten Wörter wie "seriatin kestigi parmak acimaz!" (der von der sharia geschnittene Finger schmerzt nicht!) oder "babanin vurdugu yerde gül biter!" (wo der Vater Dich geschlagen hat, dort werden Rosen wachsen) oder eben auch "halkin avami ne anlar" (was versteht das Volk schon davon!) waren allgegenwärtig und haben diese Menschen auch geprägt. Man brauchte nur den Kopf aufzurichten und sich umzusehen, die gottgleiche Verehrung eines Atatürk damals, die Begrüßung der Panzer mit Applaus, wenn alle zehn Jahre mal wieder eine Regierung vom Militär gestürzt wurde oder auch, was sich in diesen Tagen ein RTE alles leisten darf.Was glaubst, warum bis heute in keinem arabischen Land eine stabile Demokratie funktioniert hat, obwohl es dort auch immer schon eine moderne aufgeschlossene westlich orientierte Stadtbevölkerung und Intelligenz gegeben hat?

Und hier mache ich eben auch einen Unterschied zwischen einem philosophischen oder literarischen Werk, das tatsächlich auf jeder erdenklichen Metaebene interpretiert werden kann und darf, und einem religiösen Werk, bei dem man eben nicht ignorieren darf, was die Menschen daraus machen und wie es auf die Menschen wirkt. Du kannst mir noch so glaubhaft versichern, dass diese Geschichte als einziger Aufruf zur Liebe angesehen werden kann, ich kann nicht umhin zu erkennen, dass auf die Menschen stärker eben der Satz und das Bild wirkt, die ich hier kritisiert habe. Jeder ist ein Gefangener seiner eigenen Vergangenheit und seiner Gedanken. Mein Gefängnis sieht nun einmal so aus.
 

Zerd

Well-Known Member
Ich denke, dass bald wieder eine Kulturrevolution kommen wird und bin sehr gespannt darauf, wie sie sich darstellen und wohin sie uns wohl führen wird. Bislang haben sich solche Umbrüche vornehmlich in der Kunst, der Literatur und der Philosophie angekündigt, aber derzeit werden die ersten beiden Bereiche ebenso wie das Internet vom Kommerz dominiert, sodass in diesem seichten Gewimmel kaum so etwas wie ein tragfähiger Trend zu erkennen wäre; und von der Philosophie kann derzeit auch nicht viel Kreativität erwartet werden, da sie vornehmlich darum bemüht ist, schon längst zu Grabe getragene Metaerzählungen der Moderne krampfhaft wiederzubeleben.

Kein Zweifel besteht für mich dagegen, dass die gegenwärtig dominierende Erzählung, die große neoliberale Lüge, nach der jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein muss, damit am Ende das optimale Resultat für die Gesamtheit erzielt wird, keine Zukunft mehr hat. Man betrachte nur die Trophäen unserer Krisengalerie allein der letzten zwei Jahrzehnte: Dotcom-Blase, Terrorkrise, Immobilienkrise, Bankenkrise, Finanzkrise, Euro-Krise, Griechenlandkrise, Kriege gar nicht erst mitgerechnet.

Im Grunde betreibt das neoliberale Weltbild nur noch Krisenmanagement. Und das tut sie auf eine ganz raffinierte Weise: während nämlich alle Kosten und Nachteile auf die Gesamtheit abgewälzt werden, die permanent mit Hinweis auf eben die Krisen Kürzungen der sozialen oder gesundheitlichen oder der Altersversorgung, des Einkommens oder der Bürgerrechte hinnehmen muss, gehen diejenigen, denen es ohnehin schon ganz gut geht, erstaunlicherweise immer als Profiteure aus den einzelnen Krisen hervor, denen es danach noch einmal besser geht als vorher schon.

Wenn man sich allein den Anstieg der Zahl der Milliardäre und Millionäre allein hier in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren ansieht (trotz all der Krisen), dann muss ganz nüchtern festgestellt werden, dass ganz still und heimlich durch die Hintertür der Geldadel und die Aristokratie wieder eingeführt wurden. Natürlich auf Kosten der Demokratie und der Bevölkerung, die sich schon lange nicht mehr sicher sein kann, dass ihre gewählten Volksvertreter tatsächlich das Volk und eben nicht irgendeine Lobbyistenvereinigung vertreten. Über zehn Millionen Menschen in diesem Land sind trotz teilweise Vollzeitjobs auf Transferleistungen angewiesen! Und diese Versklavung der Vielen auf Kosten der Rendite der Wenigen geht immer schön weiter.

Permanente Kontrolle, Leistungsdruck, Hartherzigkeit und Konsumzwang bestimmen unsere Realität. Die Menschen sind zwar zäh und hart im Nehmen, solange Du sie mit Brot und Spielen versorgst, aber ich bin mir dennoch ziemlich sicher, dass sie das nicht mehr allzu lange mitmachen werden. Zumal wir durch den Wachstumszwang und das aufstrebende China noch an ganz andere Grenzen stossen.

All das lässt für mich keinen Zweifel, dass es so nicht mehr lange weitergehen wird. Aber wie wird es weitergehen? Wo treibt das Schiff hin? Wie könnte die Welt in 50 Jahren aussehen? Irgendwelche Ideen?...
 
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