Warum diskriminieren Aleviten Sunniten?
Umgekehrt nicht .. ? Dazu kann ich nur beitragen, was mir eine Freundin erzählte, in Deutschland aufgewachsene Alevitin, die vor einigen Jahren nach Istanbul zog und inzwischen (trotz guten Jobs dort) wieder zurückgekehrt ist. Sie hat es in ihrem Umfeld erlebt, dass ein guter Freund, ebenfalls Alevi, als Bewerber für eine Stelle ausrangiert wurde, als er im Vorstellungsgespräch die Frage nicht bejahte, ob er denn auch zum Freitagsgebet gehe. Andere Aleviten wurden ihren Erzählungen zufolge von sunnitischen Vermietern nicht als Mieter akzeptiert, obwohl sie als Angestellte nicht schlecht verdienten und auch der sonstige Hintergrund zu passen schien. Sie ist eine ganz nüchterne Person, aber das hat sie empört, und ich kann es begreifen. Das war, wie gesagt, in der Türkei - und ergänzte sich fatalerweise mit vormaligen Erfahrungen in Deutschland, als es bei der Wohnungssuche gehießen hatte, "man" vermiete nicht an Türken. -
Und dass die mächtige DITIB in der Türkei sich ausschließlich für Sunniten engagiert, ist bekannt. Aleviten werden von der DITIB gar nicht wahrgenommen oder wie eine Randgruppe behandelt, nicht anders als Christen oder Juden.
Trotzdem könnte ich mir vorstellen, dass manche Sunniten sich in Deutschland von Aleviten diskriminiert fühlen. Denn nach dem Massaker von Sivas haben viele Aleviten sich politisiert, zusammengeschlossen, Forderungen formuliert und treten seitdem selbstbewusster auf. Wie sich das vollzogen hat, lässt sich u.a. bei Burak Gümüş nachlesen (in irgendeinem anderen Alevitenthread hatte ich mal was von ihm verlinkt). Das sind Sunniten eben nicht gewohnt, weil sie mit ihren Erfahrungen als Mehrheit ganz anders umgehen können, gelassener.
Die misstrauische Skepsis, die ich gelegentlich bei Alevi gegenüber Sunniten wahrnehme, hat jedenfalls Gründe, die in der Geschichte der alevitischen Vorfolgung wurzeln. Sie waren immer Minderheit, wurden und werden ausgegrenzt von Sunniten, die Aleviten nicht als Muslime anerkennen oder dem Alevitentum den Charakter einer eigenständigen Religionsgemeinschaft absprechen und über die Zusammenkünfte in Cem-Häusern teilweise abenteuerlichste Märchen verbreiten. Die Erfahrung, in einer Mehrheitsgesellschaft "anders" zu sein und nötigenfalls wieder auf der Hut sein zu müssen, prägt natürlich und schärft das Bewusstsein. Individuen können sich (fast) immer verständigen, genügend Willen vorausgesetzt, Brücken schlagen, interreligiöse Beziehungen und Ehen eingehen, ihre Kinder nach beiden Traditionen erziehen und friedlich miteinander leben. Aber in der Gesamtheit haben die Wunden, die türkischen Aleviten immer wieder zugefügt wurden, zumindest meinen Beobachtungen nach zu einer Wachsamkeit geführt, die Du jetzt vielleicht als Ablehnung erlebst, Renga.