Ich will das behaupten. Wir hatten in den 90ern ein Ausmaß an Faschismus und Fremdenfeindlichkeit, wie ich es mir in meiner Jugend niemals hätte vorstellen können. Bis hin zu einem Innenminister Rudolf Seiters, der zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen kommentierte, könne er aber auch verstehen, die SPD müsse sich endlich in der Asylfrage bewegen. Erinnert sei an Helmut Kohl, der nicht in die Türkei flog zur Beerdigung der Opfer des Brandanschlages in Solingen; musste er vielleicht nicht, aber nicht mit der abfälligen Begründung „Beileidstourismus“.
In der Elberfelder Nordstadt stand in dieser Zeit nachts an jeder Strassenecke ein einsamer Türke und hielt Wache. Abgesprochen und im Schichtdienst; ein Kollege stellte sich den Wecker und löste ihn drei Uhr nachts ab. Andere fuhren mit dem Auto Streife, verbunden mit Walkie-Talkies; Handies gab es noch nicht. An der Uni wurden per Aushang Telefon-Alamierungsketten organisiert. Für Ostdeutschland siehe
#baseballschlägerjahre.
Nein, da würde ich widersprechen. Aber ich kann mir vorstellen, wie Du zu dieser falschen Einschätzung kommst
Zunächst einmal: es gab immer eine gewisse Minderheit in diesem Land, die das dritte Reich nie so richtig hinter sich gelassen haben und die von Zeit zu Zeit zu besonderen Anlässen ihre Stimme erhoben bis die gesellschaftliche Mitte durch einen Mix von strikter Ablehnung und ein zwei kleine Schritte auf sie zugehen sie wieder in ihre Keller und Kämmerlein zurückdrängte, wo sie wieder stillhielten und meist unter sich blieben. Es waren einfache Gemüter, die ohne einen gewissen Zuspruch ihres Umfeld zu kaum mehr in der Lage waren als Unterführungen zu bemalen oder einige Gläser einzuschlagen.
Uns solche ANlässe hatten wir in der alten Republik zum Beispiel in den sechziger Jahren, als Türken und Südeuropäer als Gastarbeiter nach Deutschland strömten. Damals ging es noch nicht um die Jobs dieser einfachen Menschen, von denen es noch genug gab, sondern vor allem um die Verunreinigung der Volksmasse. Zehm Jahre später, nach den Ölkrisen und bei immer weiter voranschreitender Massenarbeitslosigkeit wurden sie wieder laut und da kam dann auch der Jobfaktor mit dazu. Das brachte ihnen dann auch einen gewissen Zulauf aus der Mitte der Gesellschaft, die sich allerdings in den bisherigen Heimatparteien dieser Leute wie NPD und DVU nicht so recht wohl fühlten und darum zum ersten Mal mit den Republikaner eine rechtsextreme Partei mit bürgerlichen Anstrich gegründet wurde. Ihre Ergebnisse bei Wahlen waren aber weiter vernachlässigbar.
Der nächste große Anlass, der diesen einfachen Leuten einen gewissen Rückenwind brachte, was natürlich die Wiedervereinigung. Es stellte sich heraus, dass es auch im Osten, vor allen unter denen, die nicht sofort nach der Wende gen Westen zogen, ein gewisser Pool solcher Ewiggestrigen vorhanden war, was unter jahrzehntelanger Führung und Unterdrückung durch die SED nicht wirklich verwunderlich war. Das gab den Rechten dann einen Schub, der dann auch zu angekokelten Wohnhäusern und sehr vielen eingeschlagenen Scheiben geführt hat.
Ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit, da wir damals an der Uni Karlsruhe in einem über mehrere Monate sehr intensiv vorbereiteten dreitägigen Seminar, zu dem übrigens auch der damals noch recht Unbekannte Cem Özdemir als Teilnehmer der Forumsdiskussion eingeladen war, die Lage im Land analysiert haben. Und damals zeigte sich eben auch, dass die ziemlich lauten frendenfeindlichen Aktionen immer noch ausschließlich auf die weniger als 5% Deutschnationalen im Westen und die nach der Wende Orientierungs- und Perspektivlosen im Osten zurückzuführen waren (irgendwo in meinem Chaos müsste noch ein Tagungsband und einige VHS-Videos von damals herumliegen)
Die Mitte der Gesellschaft vor allem im Westen war von dem Virus aber noch nicht infiziert; die liessen sich damals noch zu hunderte Kilometer langen Menschenketten gegen Rechts bewegen (was heute ganz sicher nicht möglich wäre!). Also die Menschen, die die Rahmenbegingungen und die Zukunft dieser Gesellschaft gestalten, Entscheidungsträger sind, etwas zu sagen haben, die waren noch nicht grundsätzlich und mehrheitlich fremdenfeindlich faschistoid eingestellt.
Und da liegt vermutlich die Ursache Deiner Fehleinschätzung: Du siehst die brennenden Häuser und eingeschlagenen Scheiben von damals, die Panik, die sie verursachten, machst das als Indikator für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus aus und sagst dass jetzt, wo es diese brennenden Häuser und klirrenden Scheiben nicht oder seltener gibt (oder sie weniger Panik verursachen und seltener in den Schlagzeilen erscheinen!?!), auch die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus zurückgegangen sein muss.
Ich halte diesen Ansatz für sehr oberflächlich, zumal sich die Situation damals wieder innerhalb weniger Monate beruhigte, was eben ein Zeichen dafür war, dass die Mehrheitsgesellschaft diese Auswüchse im Griff hatte, sodass sie keine weitere Verbreitung und Nachhaltigkeit hervorrufen konnten.
In den 90er Jahren gab es allerdings eine andere Entwicklung, die den heutigen Rassismus grundlegend ermöglicht und gefördert hat. Nämlich Huntigtons Clash of Civilizations und der gezielte Aufbau der arabaisch-islamischen Welt als neues Feindbild des Westens, nachdem das alte Feindbild, der Ostblock, weggefallen war. Grundlage dafür war der seit Jahrzehnten vom Westen vernachlässigte und ungelöste Palestinenserkonflikt, der in den Achtziger Jahren von den Amis und den Saudis im Krieg gegen den Iran zu einem stattlichen Diktator aufgeblasene Saddam mit seinem Überfall auf Kuwait und die ebenfalls von den Amis im letzten Krieg gegen die Sowjetunion zu Waffengewalt und damit Macht und Ansehen verholfenen Taliban in Afghanistan.
Nach 9/11 brachen dann alle Dämme: 20 Mörder, hervorgegangen, gefördert und unterstützt vor allem von aktuellen und ehemaligen engen engen Partnerländern der USA, dass hier in Deutschland selbst so einer wie ich, der hier geboren ist, sich niemals zu einer Religion bekannte und auch noch nie in einer Moschee beten war, im Rahmen der Rasterfahndung damals durchleuchtet wurde und als Kind muslimischer Eltern als potentieller Terrorist angesehen wurde. Mein Institutsleiter wurde 2003 darüber informiert, dass meine routinemäßige Überprüfung nichts ergeben hätte und meiner weiteren Beschäftigung damit nichts im Wege stünde.
Vier Monate später wurde mein Vertrag, kurz vor Abschluss meiner Promotion, nicht verlängert, was mir vier Wochen vor Vertragsablauf mitgeteilt wurde. Wenn wir hochrechnen, müssten damals Zigtausende Arbeitgeber ein Schreiben vom BKA erhalten haben, dass ihr muslimisch-stämmiger Mitarbeiter nicht unter Terrorismusverdacht steht. Kannst Du Dir vorstellen, was für eienn Eindruck das hinterlässt, vor allem auch vor dem Hintergrund der schrecklichen Bilder vom 11. September?
Damals kam die rassistische Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft an und verbreitet sich seitdem immer mehr. Ein Sarrazin-Buch wäre zehn Jahre früher nicht möglich gewesen, ein Erdogan mutierte innerhalb weniger Jahre vom Musterknaben der islamischen Welt zur Hassfigur. Dann kam auch noch die Flüchtlingswelle, die weitere Dämme brechen ließ und wir haben derzeit eine seit Jahren nicht unter 10-15 fallende rechtsradikale Partei, die sich in der politischen Landschaft festgesetzt und genauso wie damals nach Erstarken der Grünen dazu geführt hat, dass alle Parteien ihre Programme auch in Richtung dieser Wählerschaft erweitert haben.
Ich habe euch hier von Zeit zu Zeit etliche Beispiele aus dem Alltag dafür geliefert, wie sehr diese Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Aber ihr macht mir immer noch die drei Affen, obwohl es rund um den Globus überall in dieselbe Richtung und diese Richtung sich nunmal mit Faschismus sehr gut verträgt.
Da hast Du meine unbedingte Zustimmung. Seit dem Fall der Mauer, der die Reagonomics aber nur beschleunigt hat, geht es rapide den Bach runter.
Und warum zählst Du dann nicht zwei und zwei zusammen: wenn es in dieser Phase der Zeitgeschichte immer verbreiteter und alltäglicher geworden ist, bestimmte gesellschaftliche Gruppen (in diesem Fall die ärmeren und/oder gesetzlich versicherten)zu benachteiligen und zu diskriminieren, warum sollte das dann nicht auch zwischen Einheimischen und vermeintlich Fremden funktionieren. Es ist gesellschaftlich akzeptiert und sogar gewollt, dass jeder nimmt, was er kriegt, und jeden vermeintlichen Vorteil zum Nachteil des anderen ausnutzt.
Nietzsche hat es geahnt, dass Rationalismus in letzter Konsequenz zwangsläufig zum Nihilismus führen muss. Und genau das erleben wir zur Zeit: wer sich an rationale Details klammert, der sieht irgendwann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Denn rational begründen lässt sich leider, gerade im Informationszeitalter, so ziemlich jede Schweinerei. Nur, dass es sich um eine Schweinerei handelt, das lässt sich rational leider nicht erfassen...