Entschleunigung von heute auf morgen

Zerd

Well-Known Member
Ist das nicht schön: Entschleunigung des Neoliberalismus, Entschleunigung des Rechtsextremismus, Entschleunigung des Linksextremismus, Entschleunigung des religiösen Fundamentalismus, des Hedonismus, des Konsumbedarfs, jeglicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit, keine Fakenews mehr im Internet. Alle Diktatoren werden abgewählt, internationale Solidarität hat Hochkonjunktur. Jeder denkt nur noch an das Wohl und die Gesundheit des Anderen, an Klimaschutz, an Umweltschutz, ja sogar an Tierschutz - Fleisch wird nur noch an Feiertagen verzehrt.

Corona sei dank, die Welt ist wieder in Ordnung.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Ich hatte drei Präsenztermine am Wochenende: meine Schwester und Schwager, meine Tochter und Fast-Schwiegersohn und den besten Freund meines verstorbenen Mannes. Ganz schön anstrengend. :)
Zur Beschleunigung bin ich noch gar nicht bereit, auch wenn ich hoffe, dass wir mit unserem Hygiene-Konzept bald wieder ins Training einsteigen dürfen - wenn auch ganz anders als sonst: kleine Trainingsgruppen, keine zuschauenden Eltern, keine physischen Korrekturhilfen und Außerkraftsetzen der Spielregeln, kaum noch Raum für Spontaneität. Im Seniorenbereich wird es noch schwieriger. Risikogruppen, darunter fallen im Sport alle ab 50, sollen zunächst noch nicht trainieren oder müssen separiert werden. Das gesamte Vereinsleben wird zerstückelt, jeder unterschreibt "auf eigene Gefahr", was so aussieht, als ginge man seines Versicherungsschutzes verlustig usw. usf.
Mal sehen, ob im nächsten Frühjahr alles wieder so läuft wie vor Corona. Ich glaube nicht. Und daran ist nicht Camus schuld.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Müssen in den Vereinen teilnehmende auch solche Zettel ausfüllen wie bei den Friseuren?

Also eine App brauchen wir nicht, wenn alle diese Dinger ausfüllen. :D:p
Es könnte sein, dass die Kommunen dies zur Auflage machen.
@Zerstückelung des Vereinslebens:
Inzwischen werden Untersuchungen angestoßen, die das von der Politik bisher ignorierte Vereinssterben durch die Coronakrise bearbeiten. Kleine Vereine können aus verschiedenen Gründen weder den Auflagen genügen, noch ihre Mitglieder ohne Vereinsleben binden. Vereine wurden als gesellschaftliche und politische Partizipationsforen gegründet, zunächst geheim, dann unter den wachsamen Augen der Zensur und Geheimpolizei, inzwischen nicht wegzudenken aus der bürgerlichen und demokratischen Gesellschaft. Sie sind ein bedeutender sozialer Kitt. Aber ohne "Systemrelevanz".
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Was sind das für Auflagen? Eine Anwesenheitsliste, in die sich jeder einträgt, finde ich jetzt nicht zuviel verlangt.
Hier mal unser Entwurf eines Hygienekonzepts für den Jugendbereich (Risikobereich, d. h. mehr als die Hälfte der Aktiven, ist noch mal eine ganz andere Nummer):

1. Ankunft:


Alle Spielerinnen und Spieler kommen fertig angezogen in Trainingskleidung. Die Umkleidekabinen sind gesperrt. Diejenigen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommen, tragen bei der Anfahrt bitte einen Mund- und Nasenschutz und gegebenenfalls Handschuhe. Vor der Halle (z. B. wenn auf den Hausmeister gewartet wird) muss der Mindestabstand von 1,5 m eingehalten werden. Kein Händeschütteln, kein Umarmen! In entsprechendem Abstand betreten wir nacheinander die Halle. Bevor aufgebaut oder trainiert wird, waschen wir uns die Hände.


2. Aufbau der Tische und Spielfeldumrandungen:


Um den Mindestabstand von 4 - 5 m zwischen den einzelnen Spielern auf der gleichen Seite einzuhalten, können auf jeder Seite 2 - 3 Tische mit Spielfeldumrandungen aufgestellt werden. Zwischen den beiden Seitenhälften ist ein Korridor einzurichten. Tische und Netze werden mit Handschuhen und Mund-und Nasenschutz aufgebaut. Die Tischoberflächen und Kanten sowie Sicherungsgriffe und Netzverschraubungen müssen vor dem Training desinfiziert werden.


3. Schläger und Ball:


Jeder spielt mit eigenen Bällen und eigenem Schläger. Schläger können nicht mehr ausgeliehen werden. Aufschläge werden nur mit eigenem Ball gemacht (wir spielen zweifarbig). Der Ball des Trainingspartners wird nicht mit den Händen angefasst. Kommen fremde Bälle ins Spielfeld, dürfen sie nur vorsichtig mit dem Fuß zurückgeschoben werden. Die Bälle verbleiben beim Spieler (jeder erhält eine bestimmte Anzahl Bälle, die nach Bedarf ersetzt werden), d. h. der Spieler ist für seine Bälle und seinen Schläger selbst verantwortlich.


4. Teilnahme am Training:


Zum Training ist die jeweilige Trainingsgruppe zugelassen. Spielerinnen und Spieler, die Anzeichen einer Erkältung oder sonstigen Infektion haben (Unwohlsein), bleiben zu Hause, auch wenn es sich nur um ganz leichte Anzeichen handelt.


5. Trainingsplan:


Sobald wir von der Stadt die endgültigen Rahmenrichtlinien erhalten haben, werden wir einen genauen Trainingsplan ausarbeiten. Alle sollen weiterhin mittwochs und freitags trainieren, allerdings zeitversetzt. Die Älteren können sich darauf einstellen, dass sie etwas später anfangen und etwas später aufhören. Die ganz Kleinen, die ohne Hilfestellung noch nicht spielen können, werden vorübergehend nur am Freitag kommen können.


6. Training:


Die Spieler sind durch den Tisch, dessen Länge 2,74 m ist, ausreichend getrennt. Wichtig ist, dass sie sich auch beim Ballaufheben nicht näher als 1,5 m kommen. Die Trainer achten auf die Einhaltung des Abstands. Korrekturen, die die physische Hilfestellung des Trainers erfordern, können nicht mehr durchgeführt werden. Umso wichtiger ist es, dass bei Trainingsanweisungen genau zugehört und bei Beispielübungen genau zugeschaut wird. Herumtoben muss ebenso vermieden werden wie lautes Schreien. Die Trainer achten auf eine ruhige und konzentrierte Durchführung des Trainings. Es können keine Doppel gespielt werden. Die Tischoberfläche darf während des Spiels nicht angefasst werden (jetzt wisst ihr, warum wir euch beigebracht haben, nie den Tisch im Spiel anzufassen J). Nach Satzende werden nicht die Seiten gewechselt. Vor oder nach dem Spiel werden keine Hände mit dem Spielpartner geschüttelt. Es werden zur Kontaktminimierung feste Trainingsgruppen eingerichtet, so dass gegebenenfalls eine Infektionskette dokumentiert werden kann. Die Trainer führen die Anwesenheitsliste. Nur in absoluten Ausnahmefällen kann ein Elternteil beim Training dabei sein, weil wir sonst bei ca. 10-13 Aktiven (Spieler plus Trainer), unsere Raumkapazität übersteigen. Für eine Person werden mindestens 10m², für einen Tisch 50m² veranschlagt. Bei Wechsel des Spielpartners werden vorher die Hände gewaschen. Es darf nur aus der eigenen Trinkflasche getrunken werden.


7. Nach dem Training:


Die Spieler zählen ihre Bälle, verpacken sorgfältig ihre Schläger, ziehen ihren Kapuzenpulli/ Sportjacke und Jogging/Sporthose an und verlassen, nachdem sie sich die Hände gewaschen haben, einzeln die Halle. Die Eltern, die ihre Kinder abholen, betreten einzeln die Halle oder warten vor der Halle in entsprechendem Abstand. Wer die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt, tut dies mit Mund- und Nasenschutz.


8. Sanitäre Anlagen:


Der Toilettenraum darf nur einzeln betreten werden. Das gilt auch fürs Händewaschen.




Neben dem Materialaufwand (oder glaubst du, dass der Hausmeister, Seife, Papier, Papierkörbe, Desinfektionsmittel, Handschuhe, Mund-und Nasenschutz täglich bereitstellt), bedarf es eines doppelten Personalaufwands, um die Regeleinhaltung durchzusetzen, und damit einer doppelten ehrenamtlichen Arbeitsszeit. Das ist von vielen nicht zu stemmen. Und viele fürchten die Verantwortung, wenn etwas schief geht. Wenn Tus Waldendorf zum Hotspot wird, kannst du den Verein gleich dichtmachen. Die Liste ist noch das Geringste. Aber auch die muss einer führen, aber wird womöglich zur Verantwortung gezogen, wenn einer vergessen wurde.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Den Hallen- und Mannschaftssport hat die Entschleunigung von heute auf morgen vielleicht noch härter getroffen als die Künstler, die zwar aufs reale Publikum verzichten mussten und müssen, aber immerhin doch ihre Kunst ausüben konnten. Wenn nun unter Einschränkungen der Breitensport wieder zugelassen wird, wird für jeden höchstens 50% der ehemaligen Trainingszeit wegen verkleinerter Trainingsgruppen usw. zur Verfügung stehen. Heute las ich, dass der bayrische Amateurfußballverband die Saison 2020/21 ausfallen lässt. Bei einem Start im September könne der Terminplan nicht eingehalten werden, denn ab November seien in in vielen Regionen die Plätze nicht mehr bespielbar usw.
Der Lockdown für den Breiten- und Jugendsport wird die Gesellschaft teuer zu stehen kommen, teurer als das E-learning.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Sind wir noch im Entschleunigungsmodus oder schon wieder im Stress, auch wenn der vielleicht anders aussieht als vor dem Lockdown? Oder gab es gar keine Entschleunigung, nur eine Verlagerung der Stressfaktoren?
 

Mendelssohn

Well-Known Member
In den ersten Bundesländern neigen sich die Ferien dem Ende zu. Der Plan der Landesregierungen ist, in Schulen, Kitas und später in den Universitäten in Vollbetrieb zu gehen. Nicht, dass es in sämtlichen Einrichtungen der öffentlichen Erziehung und Bildung Halbbetrieb gegeben hätte. Es herrschte Kombi-Betrieb. Nun also zurück zur Präsenz. Kitagruppen von 15 verschnupften Kleinkindern, Schulklassen von 30 Schülern in Klassenräumen, deren Fenster nicht zu öffnen sind, Vorlesungen von 100 bis 1000 Studierenden unter Abstandsregeln, die vom Lehrenden zu überprüfen sind. Hier sind nun die Verschwörungstheoretiker gefragt, um den Vollbetrieb am Laufen zu halten: "Eltern gegen Impfen", "Profs gegen Maulkorb", "Bürger gegen zionistische Weltherrschaft", "Lehrer*innen gegen die Gesamtschule", "Nerds for Flashmob", "Yoga for Saxonia", "Unsere Kurve daheim" usw.
Alle anderen werden Großveranstaltungen in zu engen und fensterlosen Räumen meiden.
Ich glaube nicht an Vollbetrieb in Präsenz. Wer will die Verantwortung übernehemen? Die Institution? Wer will zahlen, wenn's schief geht? Die Pensions- und Rentenkassen?
Entschleunigung gab es so recht gar nicht. Die Umsatzeinbußen sind geringer als befürchtet. Die Kleinen kacken im Kapitalismus sowieso ab, mal schneller, mal langsamer - je nach Konjunktur - aber um die Pleite herum kommen sie nicht. Das ist das Prinzip.
Etwas anderes sollte man nicht vergessen: in Zeiten sehr verkürzter Verkehrswege - von der Dusche zum Laptop - bleibt Zeit zum Denken. Künstler und Wissenschaftler sind im Hochleistungsmodus. Von einer Zeitenwende spricht man immer, wenn die Menschheit betroffen ist. Da haben die Denker und Denkerinnen viel zu tun.
 
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