Entschleunigung von heute auf morgen

Mendelssohn

Well-Known Member
Als ich in ganz jungen Jahren die amerikanischen Endzeitfilme im Westfernsehen geschaut habe, habe ich mit keiner Silbe daran gedacht das dieses Thema noch in meiner Lebenszeit mal akut werden könnte.
Seit dem Millenium hat die Zeit Fahrt aufgenommen, so dass man das Gefühl hat, dass Entwicklungen auf jedem Gebiet sich ums Dreifache beschleunigt haben.
 

Zerd

Well-Known Member
Spätestens seit Ende der 80er Jahre gibt es das bekannte neoliberale Problem der Umverteilung von unten nach oben: während Einkommen, Sozialleistungen und Renten von Normalsterblichen kaum wuchsen, stagnierten oder sogar sanken, brauchte es seitdem eine immer kürzere Zeitspanne, bis sich das Vermögen der oberen Zehntausend verdoppelten oder es wurde immer einfacher für große Firmen, kleinere Konkurrenten zu schlucken usw.

Immerhin dauerte es vor Corona zuletzt noch einige Jahre, bis sich das Vermögen der Reichen verdoppelte. Durch Corona glückte dies offenbar schon innerhalb eines Jahres, der Aktienkurs der größten und damit stabilsten Unternehmen ist in dieser Zeit im Schnitt zwischen 50 und 100% gestiegen . Ich würde das eher als eine Beschleunigung ansehen.

Überhaupt, die Börsen- und Finanzwelt, der große und unermüdliche Aufsteiger dieser Jahrzehnte, der es im Laufe der Zeit, vor allem im Krisenjahrzehnt der Nuller Jahre , immer besser verstanden hat, sich von jeglicher gesellschaftlicher Entwicklung derart abzukoppeln, dass er zwar nach wie vor mehr oder minder große gesellschaftliche Krisen hervorruft, aber davon inzwischen kaum mehr beeinflusst wird, da der ganze Schaden, den sie anrichten, gesamtgesellschaftlich, d.h. vor allem von den Normalsterblichen übernommen wird.

Aber immerhin: während bei der letzten (natürlich wieder von ihr verursachten)Krise die Börsenkurse noch etwa ein Jahr benötigten, wieder auf den Vorkrisenstand zu gelangen, funktionierte das bei der Corona-Krise schon innerhalb von 2 Monaten, während heute, mitten in der dritten Welle, schon wieder fast täglich neue Rekorde gemeldet werden. Wenn das keine Beschleunigung ist.

Die Abwicklung und der Abbau des Mittelstandes, also der gut verdienenden abhängig beschäftigten sowie der kleinen und mittleren Unternehmer, war ein weiteres Charakteristikum der neoliberalen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Dieses immer kleiner werdende Grüppchen musste in diesem Corona-Jahr, im Gegensatz natürlich zu den Großunternehmen, ihre Arbeit zeitweise völlig einstellen und ist dadurch natürlich viel stärker geschrumpft, zugunsten auch des Niedriglohnsektor, eines weiteren Wachstumsbereichs der letzten Jahrzehnte.

Auch das klingt nicht wirklich nach Entschleunigung, sondern eher nach Beschleunigung des bereits vorhandenen Trends.

Der Verlust demokratischer Strukturen und Grundsätze war ein weiteres Phänomen, das sich in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Gesellschaftsbereichen ausbreitete. Mit der Macht des Kapitals wuchs natürlich auch die Macht ihrer Lobbyverbände, die Versuchung oder die Abhängigkeit der Politik wuchs, das Vertrauen der Bürger in sie ging verloren, Ungleichheit und Diskriminierung wurden gesellschaftsfähig, auf sozialen Netzwerken im Internet sogar zu einer Selbstverständlichkeit usw.

Im Coronajahr wurde auch diese Entwicklung auf die Spitze getrieben, indem nun einen kleine Runde von 16 Ministerpräsidenten und der Kanzlerin alle wesentlichen Entscheidungen für die Politik trifft und die vom Volk gewählten Parlamente sich nahezu ohne Widerstand in ihre Komparsenrolle als Abnicker fügen. Es tritt nun völlig unverblümt und offen zutage, was etwas besser informierten Menschen über die Entscheidungsprozesse in diesem Land schon länger wussten: das Festhalten an demokratischen Strukturen und Werten ist mittlerweile für die meisten Politprofis eine Frage der gegebenen Umstände. Auch das ist eine Beschleunigung in diesem Corona-Jahr in eine Richtung, in die wir uns schon länger bewegt haben

Apropos Ungleichheit und Diskriminierung, besonders deutlich auch in unserem so hoch gelobten Gesundheitssystem, wo der Unterschied zwischen Selbstzahlern, privat und gesetzlich Versicherten immer offener zutage tritt. Ich selbst konnte als gesetzlich versicherter Angestellter, der aber überwiegend mit privat versicherten Beamten zusammenarbeitet, oft genug aus erster Hand erfahren, wie bei derselben Art von Beschwerden und sogar beim selben Arzt die Behandlungsmethoden variieren können. Und ich habe meinen Hausarzt auch vertrauensselig darauf angesprochen, woraufhin er mich nur noch stiefmütterlicher behandelte und nur noch loswerden wollte. Das ist ihm zuletzt, vermutlich Corona-bedingt auch geglückt: denn als ich mir Ende Januar, zwei Jahre nach meiner letzten Be- oder Mißhandlung, wegen einer akuten Beschwerde einen Behandlungstermin geben ließ und die Woche darauf pünktlich zu diesem Termin erschien, musste ich mir anhören, dass der Arzt an diesem Tag wegen Hausbesuchen den ganzen Tag außer Haus ist!

Danach habe ich in drei weiteren Praxen unserer Ortschaft nach einem Behandlungstermin gefragt und von allen dieselbe Antwort erhalten: bei uns ist zur Zeit total Land unter, weshalb wir keine neuen Patienten aufnehmen, versuchen sie es bitte bei einem anderen Arzt. Eine dieser Praxen hat sich sogar zunächst nach meinem Versicherungsstatus erkundigt, bevor sie mir dann aus demselben Grund abgesagt hat.

Mir blieb nichts anderes übrig als auf einen Hausarzt derzeit zu verzichten und mir direkt beim Facharzt online einen Termin zu holen. Auch da konnte ich übrigens anklicken, ob ich privat oder gesetzlich versichert bin, und natürlich habe ich mir da den Spaß erlaubt, zunächst die private Variante anzuklicken, woraufhin mit schon innerhalb einer Woche 4 Termine angeboten wurden. Als gesetzlich Versicherter erhielt ich den ersten Termin erst in drei Wochen!

Natürlich fragt sich ein solcher Patient, wie diese derart überlasteten Hausarztpraxen derzeit so sehr darauf brennen können, die Corona-Impfungen selbst durchzuführen, aber vermutlich hat das auch Kostengründe, vermutlich werden sie einfach nur gut bezahlt dafür. Wie etwa Ende letzten Jahres die Apotheker, die für jede umsonst abgegebene 1-Euro-Maske vom Staat 6 Euro erhalten haben oder auch wie die Krankenhausgesellschaft, die noch Ende des letzten Jahres den Untergang vieler Krankenhäuser wegen Corona beschwor, und jetzt, nach einer wenig öffentlich diskutierten finanziellen Neuregelung sich plötzlich über Ärzte beschwert, die vor der baldigen Überlastung von Intensivstationen warnen.

Soviel zu meiner persönlichen Erfahrung mit der Beschleunigung in diesem Jahr; ich sitze ohne Hausarzt da und werde früher oder später vermutlich in einer der von den Krankenhausholdings illegal betriebenen Medizinischen Versorgungszentren in einer größeren Stadt landen. Natürlich ist es bei mir auch nicht unbedingt hilfreich, dass ich nicht nur gesetzlich Versicherter bin, sondern auch noch einen so komisch muslimisch klingenden Namen habe. Denn diese Art der Diskriminierung ist zwar unser ältestes, zur Zeit aber wohl unser kleinstes Problem.

„Entschleunigung“, man könnte lachen über diesen Witz, wenn es denn nicht so traurig wäre…
 

Bintje

Well-Known Member
(...)Mir blieb nichts anderes übrig als auf einen Hausarzt derzeit zu verzichten und mir direkt beim Facharzt online einen Termin zu holen.

Zustände wie in Eritrea oder Yemen...

Natürlich fragt sich ein solcher Patient, wie diese derart überlasteten Hausarztpraxen derzeit so sehr darauf brennen können, die Corona-Impfungen selbst durchzuführen, aber vermutlich hat das auch Kostengründe, vermutlich werden sie einfach nur gut bezahlt dafür. (...)

Extrem auskömmlich: Ganze 20 € pro Impfung inklusive allem.

https://www.kbv.de/media/sp/COVID-19-Impfung_PraxisInfo_Abrechnung_Dokumentation.pdf

  1. "Die Höhe der Vergütung für ärztliche Leistungen bei der COVID-19-Schutzimpfung legt das Bundesgesund- heitsministerium in seiner Coronavirus-Impfverordnung fest. Demnach erhalten Ärztinnen und Ärzte:

    › 20 Euro je Impfung (Erst- und Abschlussimpfung: insgesamt 40 Euro)

    Die Leistung umfasst die Aufklärung und Impfberatung, die symptombezogene Untersuchung zum Aus- schluss akuter Erkrankungen oder Allergien, die Verabreichung des Impfstoffs, die Beobachtung in der sich unmittelbar anschließenden Nachsorgephase und die medizinische Intervention im Fall von Impfre- aktionen.
  • › 35 Euro für den Hausbesuch und 15 Euro für den Mitbesuch

    Ist für die Impfung ein Hausbesuch notwendig, gibt es zusätzlich 35 Euro. Für das Impfen jeder weiteren Person in derselben Einrichtung oder sozialen Gemeinschaft werden jeweils 15 Euro zusätzlich zur Imp- fung vergütet.
  • › 10 Euro für ausschließliche Impfberatung ohne Impfung

    Erfolgt nur eine Impfberatung ohne nachfolgende Schutzimpfung sind 10 Euro vorgesehen. Die Impfbe- ratung kann auch telefonisch oder per Videosprechstunde stattfinden. Die Abrechnung der ausschließli- chen Impfberatung neben einer Impfung und einem Besuch ist im Krankheitsfall ausgeschlossen.

    Hinweis: Die Vergütung setzt nach der Coronavirus-Impfverordnung die Meldung der erforderlichen Impfdaten an das RKI voraus."
 

sommersonne

Well-Known Member
Wahrscheinlich müssen wir uns sogar bei der Pandemie bedanken. Dadurch kommen eine Menge Unzulänglichkeiten an den Tag, nicht nur Korruption und übermäßiger Lobbyismus.
 

Zerd

Well-Known Member
Auch so eine Erkenntnis, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hat: ihr habt einfach die besseren Gene und die richtige Religion! Und deshalb scheut ihr auch nie die Vergleiche mit Weltregionen, in denen manches nicht so klappt wie bei euch, selbst dann, wenn bei euch gerade alles den Bach hinunter geht.

Im Türkischen lautet ein Sprichwort "ne oldum dememeli, ne olacagim demeli" und bedeutet in etwa so viel wie "schau nicht darauf, was aus Dir geworden ist, schau vielmehr darauf, was gerade aus Dir wird. Und diesem Zusammenhang interessiert mich nicht so sehr die aktuelle Situation des Landes, das einmal, kurz nachdem es das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, der weltweite Vorreiter für demokratische und soziale Entwicklung eines Landes gewesen ist, sondern vielmehr, in welche Richtung es sich entwickelt.

Und diese Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die ich nicht gutheisse und die sich meines Erachtens während dieses Corona-Jahres beschleunigt hat, war das Thema meines Beitrages. Und nicht der Vergleich der Zustände mit Bulgarien, Türkei oder Eritrea. Wer sich für Journalismus interessiert, sollte soviel Textverständnis eigentlich aufbringen.

Extrem auskömmlich: Ganze 20 € pro Impfung inklusive allem.

Wenn Du mir damit sagen möchtest, dass nun alle Hausärzte zu Philanthropen mutiert seien, die unabhängig von Kosten und Erlösen jedem Patienten die optimale Behandlung zukommen lassen, dann bleiben mir, sowohl vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen als auch vor dem Hintergrund der beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die Du hier auch wunderbar bestätigst und von der ich keine Personen- oder Berufsgruppe ausnehmen würde, gewisse Zweifel.

Dabei wäre ich einer der ersten, die sich über eine Entwicklung in diese Richtung freuen würden. Aber wie soll das funktionieren, solange die Leute noch so sehr dankbar sind darüber, dass es ihnen immer noch besser geht als Menschen in Eritrea und Jemen...

(Für Interessierte:
Pro-Kopf-BIP
Eritrea: 567
Jemen: 713
Deutschland: 46473
Welt: 11429)
 

Bintje

Well-Known Member
Wahrscheinlich müssen wir uns sogar bei der Pandemie bedanken. Dadurch kommen eine Menge Unzulänglichkeiten an den Tag, nicht nur Korruption und übermäßiger Lobbyismus.

Beides gab es schon vorher (was es nicht besser macht), und der beklagenswerte Zustand der Digitalisierung in Deutschland tritt nun auch so offen zutage, dass die nächste Regierung gar nicht umhin kommt, das Thema zu einem ihrer Schwerpunkte zu machen. Dass das Gesundheitssystem insgesamt und insbesondere die Pflegekräfte profitieren, wage ich allerdings zu bezweifeln. Abwarten. Was mir wirklich Sorgen macht, sind die vielen Politik- und Demokratieverdrossenen, die es völlig normal finden, Deutschland mit Nordkorea zu verwechseln, und zum anderen Politiker, die Corona-Bekämpfung durch wahlkampftaktische Spielchen ersetzen. Das bringt was ins Rutschen, und am Ende dürften womöglich die Ränder triumphieren: Staatsbürger, die das Land sowieso für ein Freiluftgefängnis halten und lediglich aus der Kundenperspektive betrachten.
Gib mir!, vor allem mir das Meiste! Sonst setzt es was. Mindestens Protestwahl. Jau, werden dann alle feixen, die die Republik nur und noch immer als Wiedergänger des NS- und DDR-Staats interpretieren und ihre Zugehörigkeit oder gewollte Nicht-Zugehörigkeit abfeiern durch "wir"/"ihr"/euch"-Schablonen und deplatzierte religiöse Haarspaltereien. So geht es voran. Nicht.
 

Bintje

Well-Known Member
Zur Zeit ist es wirklich nicht schwer Politikverdrossen zu sein. Warum es abstreiten, aus vielen Beiträgen hier springt es einen förmlich an. Ich bin es und schäme mich nicht dafür. Dafür müssen sich ganz andere schämen.

Klar. Die Frage ist, welche Konsequenz man daraus zieht und ob sie einer aufklärerischen und vernünftigen Haltung entspricht oder einem kleinkindhaft-reaktanten Aufstampfen zum Beispiel in Form von Quer-, Leer- und Hohldenker-Demos & Ansprachen. Es gibt, habe ich gelernt, tatsächlich Leute, die sich selbst so wichtig nehmen, dass sie bei einer nicht erhörten Beschwerde x-fach nachhaken und, wenn es dann noch immer nicht nach ihrem Gusto läuft, obwohl sie doch alles wissen, stets besser als alle anderen, sich nach Revolution sehnen oder doch zumindest einem Revolutiönchen und nach Kassel fahren, Stuttgart oder sonstwohin. Hauptsache: Ein Event, ein Event! Meinetwegen. Mich irritiert nur der friedliche Anstrich, weil es so pseudo ist, überaus verlogen und m.E. keineswegs friedlich, sich das Recht zuzubilligen, andere anzurotzen. Im wörtlichen und im übertragen(d)en Sinne.
 
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