Entschleunigung von heute auf morgen

Mendelssohn

Well-Known Member
Habe meine Lektüre wieder aufgenommen, bin erst auf Seite ca. 100.

Was sich für uns merkwürdig liest: Die haben als Stadt insgesamt Quarantäne, keiner kommt mehr raus. Aber intern haben sie kein Kontaktverbot. Sie gehen in Cafes und Spelunken, die Kinos sind voll, obwohl irgendwann immer nur noch dieselben Filme gezeigt werden, die Kirche ist voll weil kann ja nicht schaden.

Aber Wikipedia meint, das geht o.k. Hier ist die Rede von der Beulenpest, die wird durch Flohbisse übertragen. Nur die Lungenpest durch Tröpfcheninfektion.
Die Lungenpest sattelt vorm Höhepunkt auf. Da werden dann die unkatholischen Krematorien installiert.
Ich werde dir jetzt nicht sagen, wer neben Rieux überlebt, aber es gibt ein kleines Happy End.
Das Schlimmste aus Camus' Sicht war nicht die Todesangst, an die sich die Mitbürger nach Monaten gewöhnt hatten, sondern die Trennung, in unserem Sprachgebrauch die Isolation. Die Isolation in der Isolation, also die Quarantäne im Fußballstadion oder einer sonstigen Einrichtung, war nur eine Verschärfung des grundsätzlichen Abgeschnittenseins von allem, was nicht Pest war. Zunächst dachte ich, es ging Camus nur um den Schmerz, den Liebende bei einer Trennung, deren Ende nicht abzusehen ist, durchmachen. Aber es geht um das Getrenntsein an sich. Der Mensch stirbt in Isolation. Er ist von Natur aus Gemeinmensch (Feuerbachs Übersetzung des Kommunisten btw). Die Pest ist so betrachtet ein Angriff auf seine Natur, auf sein Wesen.
Und noch eine Erkenntnis: wenn die Seuche nicht gewinnen soll, muss sie verwaltet werden. Dies mit Blick auf Systemrelevanz. Cottard, Grand und wie sie alle heißen, sind nicht weniger systemrelevant als der Doc und seine Mutter, die ihm das Essen kocht.
 
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Mendelssohn

Well-Known Member
Precht betätigt sich bei Lanz gerade als einsamer Rufer in der Wüste, indem er darauf abstellt, dass die Menschen eben sehen, was alles möglich ist, und einige deshalb auf die Idee kommen könnten, die Flugzeuge am Boden oder die leeren Straßen zu schätzen. Mendelssohn würde das sicher gefallen.

Aber es ist schon offensichtlich, wie alleine er dasteht neben Lanz, einem Virologen und der Chef-"Ethikerin", für die das wirtschaftliche Wachstum untrennbar mit Grundrechten und Freiheiten verknüpft ist...
Precht ist mir schon mehrfach positiv aufgefallen im Unterschied etwa zu Sloterdijk, der dir aus der Reihe der öffentlichen Philosophen wahrscheinlich näher steht.
 

Alubehütet

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Precht ist mir schon mehrfach positiv aufgefallen im Unterschied etwa zu Sloterdijk, der dir aus der Reihe der öffentlichen Philosophen wahrscheinlich näher steht.
Die kann man überhaupt nicht in einem Atemzug nennen. Sloterdijk ist Philosoph, Precht Philosophiejournalist. Precht ist Liga Scobel, Yogeshwar. Gar nichts gegen zu sagen. Aber ganz anderes Genre. Safranski ist vielleicht vergleichbar mit Precht, kommt aber aus einer ganz anderen Ecke wiederum, Heidegger.
 

Zerd

Well-Known Member
Precht ist mir schon mehrfach positiv aufgefallen im Unterschied etwa zu Sloterdijk, der dir aus der Reihe der öffentlichen Philosophen wahrscheinlich näher steht.
Sloterdijk habe ich in meiner Karlsruher Zeit einige Male gehört: zu extrovertiert, zu menschenfeindlich, zu verspielt. Darum habe ich mich auch kaum mit seinen Werken beschäftigt und so ziemlich alles, was ich zu aktuellen Debatten von ihm hörte, bestätigte meine Vorurteile.

Sehr beeindruckt war ich allerdings von Gerhard Roth, als er mal in Karlsruhe zu Besuch war und einen Vortrag gehalten hat. Und ich glaube, mit Markus Gabriel werde ich mich wohl auch anfreunden können, habe kürzlich seine Einführung in die Erkenntnishteorie zu lesen begonnen und folge bislang noch sehr gerne seinen Ausführungen.

Ansonsten halte ich die Philosophie des 20. Jhds stellenweise für sehr unterhaltsam und inspirierend, aber alles in allem zu sehr traumatisiert von den zwei Weltkriegen und den politischen Entwicklungen dieses Jahrhunderts. Da steckt viel Intelligenz und Wissen, aber für meinen Geschmack zu wenig nachhaltige Weisheit darin.

Meine uneingeschränkten Favoriten sind, was das Denken über das Denken, über den Menschen und über das Leben angeht, Platon, Kant, Goethe und Nietzsche. Ich mag es einfach, wenn Philosophen aus dem Ursprung heraus denken, das große Ganze versuchen zu erfassen.

Und was Precht angeht, er hat da bei Lanz einige sehr schöne Ideen geäußert, welche Chancen in dieser Krise stecken und was wir daraus lernen und verändern könnten. Aber er glaubt auch nicht daran, worin wir uns dann wieder einig sind.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Die kann man überhaupt nicht in einem Atemzug nennen. Sloterdijk ist Philosoph, Precht Philosophiejournalist. Precht ist Liga Scobel, Yogeshwar. Gar nichts gegen zu sagen. Aber ganz anderes Genre. Safranski ist vielleicht vergleichbar mit Precht, kommt aber aus einer ganz anderen Ecke wiederum, Heidegger.
Das sehe ich etwas anders, von den zwei- oder dreimal, die ich Precht im Fernsehen gesehen und gehört habe. Er macht keine Populärphilosophie, sondern ist gut ausgebildet in der deutschen Systemphilosophie, die allerdings - im Angesicht von Auschwitz, das von der deutschen Philosophie nicht verhinderte wurde - auch zur Kritik steht. Was er zu sagen hat, ist keine leichte Kost, auch wenn er auf manchen Schulbegriff verzichtet.
Sloterdijk kommt dagegen höchst gelehrt und professoral daher. Was er aber verkauft, ist populäre Selektionstheorie (Lies mal: Regeln für den Menschenpark http://www.kreisbogen-der-metaphysik.de/sloterd.htm). Er ist ein Philosph des Populismus. Adorno würde sagen: ein plumper Geschäftsmann.
 

Alubehütet

Well-Known Member
@Mendelssohn Von Precht habe ich nur „Wer bin ich“ gelesen, und muß dazu sagen: Er geht da hauptsächlich aus von der neuzeitlichen Philosophie, vieles ist mir auch neu (und fremd und interessant), Tierschutzethik. Und wenn aber dann einer Kants „Du kannst, denn Du sollst“ genau falsch verstanden hat als „Du sollst, denn Du kannst“, was fundamental ist zu einem auch nur ansatzweisen Verständnis … nicht einmal Kants, aber dessen Folgen für die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften, also etwa Popper, dann ist er für mich als Philosoph nicht ernstzunehmen. Wie gesagt, seine philosophiejournalistischen Beiträge, etwa zum mir bis dahin völlig unbekannten Singer, lese ich durchaus interessiert.



Zur Menschenpark-Rede – Lange nicht mehr draufgeguckt, abgehakt. Damals hatte für mich Ernst Tugendhat alles gesagt, leider hinter Paywall:(:

„Ich muss gestehen, dass ich nicht verstanden habe, worum es dem Autor überhaupt geht. Was will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas in diesem Aufsatz, was wir jetzt besser verstehen würden? Irgendetwas, das er geklärt hätte? Ich habe nichts gefunden.“[1]

Im Sinne Poppers hatte Sloterdijk nichts Positives gesagt. Nichts, das man bejahen könnte, nichts, das man verneinen müsste. Mit einem bösartigen, aber treffenden Wort könnte man sagen, er habe „geraunt“. Assheuers Replik fand ich nur noch peinlich, Sloterdijks Stellungnahme äußerst schwach (verschwörungstheoretisch, ohne Belege, nicht einmal nur Indizien, ist mir als Alubehüteter zu dünn), aber in der Sache Tugendhat bestätigend.

Im Übrigen hat Nietzsche noch ganz andere Klopper rausgehauen. Das berüchtigte „Der Wille zur Macht“ aus der Hand einer überzeugten Nationalsozialistin besteht immerhin aus Originalzitaten. Dennoch liest auch @Zerd noch heute Nietzsche.
 
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Alubehütet

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Was er aber verkauft, ist populäre Selektionstheorie (Lies mal: Regeln für den Menschenpark http://www.kreisbogen-der-metaphysik.de/sloterd.htm)
Diese Rede hat er überhaupt nicht verkauft. Er ist Professor. Für diese Rede hat er überhaupt nichts gekriegt außer einen Gastaufenthalt auf Schloss Elmau. Immerhin. Das ist deren Geschäftsmodell. Und wenn Mohr und Asshauer da nicht so einen Wind drum gemacht hätten, dann hätte auch keiner davon Wind gekriegt.

Eine „Sloterdijk-Debatte“ gab es nicht. Nicht in dem Sinne, wie es eine Walser-Debatte gab. Wenn Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche von Moralkeule spricht, dann will der Krawall. Sloterdijk hat gepflegte Abendunterhaltung geliefert für ein gut zahlendes, elitäres, vor allem: esoterisches, ein ausgewähltes Publikum, das ist alles. Leben tut er von seiner Professur.
 
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Zerd

Well-Known Member
Im Übrigen hat Nietzsche noch ganz andere Klopper rausgehauen. Das berüchtigte „Der Wille zur Macht“ aus der Hand einer überzeugten Nationalsozialistin besteht immerhin aus Originalzitaten. Dennoch liest auch @Zerd noch heute Nietzsche.

Ich weiss, auch das ist in unserer Zeit unüblich und nicht sonderlich weit verbreitet, aber für mich käme es gar nicht in Frage, einen Philosophen vornehmlich nach seinen Inhalten und Aussagen zu burteilen, ihn darauf festzunageln. Und schon gar nicht danach, wie andere diese Inhalte interpretiert oder wozu sie sie verwendet haben.

Denn jeder Philosoph ist unweigerlich auch ein Kind seiner Zeit und diese Zeit wirkt und schwingt zwangsläufig auch in seinen Inhalten und Aussagen mit. Wer sich eher historisch mit dieser Zeit auseinandersetzen will, kann dafür natürlich auch gerne Inhalte und Aussagen der Philosophen dieser Zeit heranziehen, aber es ist nicht das besondere Merkmal von Philosophen (sollte es zumindest nicht sein), Kinder ihrer Zeit zu sein (das haben sie mit Millionen anderen gemeinsam), vielmehr ist ihre charakteristische Eigenschaft, wie sie denken und nachdenken.

Und da kommt Nietzsche meines Erachtens eine ganz besondere Rolle zu. Er ist für mich wie das Delta des Mündungsgebiets eines mächtigen Flusses, der zwar von seiner Quelle, dem Regen und vielen Nebenarmen gefüttert mächtig viel Wasser führt, aber durch sein Flussbett, die eine Flussrichtung und die beschränkte Tiefe doch ziemlich festgelegt war.

Nietzsche war zwar nicht der erste, der die Idee der Perspektive in das Denken eingeführt hat, aber derjenige, der sie konsequent bis zur Selbstaufgabe umgesetzt hat. Und jeder Perspektivwechsel sorgte für eine neue Verzweigung des Flusses bis zuletzt das kaum überschaubare undurchdringliche Geflecht des Deltagebiets entsteht, das den Fluss dann zuletzt in einen offenen Ozean führt, in dem alle möglichen Strömungsrichtungen, Tiefen und Untiefen, Uferabschnitte möglich sind und in den noch zahllose andere Flüsse münden.

Wie vergänglich (selbst für ihn) dagegen seine einzelnen Inhalte und Aussagen waren, hat er selbst in einem seiner späten Vorworte sehr schön beschrieben, wo er sinngemäß sagte, wie sehr ihm diese Gedanken lebendig und atmend vorkamen, ihn begeisterten und überwältigten, als er sie zum ersten Mal dachte und niederschrieb, und wie dann das Leben aus ihnen wich, sie verwelkten und immer farbloser wurden, nachdem sie schon einmal niedergeschrieben waren und andere neue Gedanken und Inhalte ihre Stelle einnahmen.

Er war für mich gewissermaßen derjenige Denker, der Heraktlits Panta Rhei in das Denken eingeführt und allen folgenden Philosophen diesen offenen Ozean hinterlassen hat, mit dem wir leider immer noch nicht so richtig umgehen gelernt haben.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
@Mendelssohn Von Precht habe ich nur „Wer bin ich“ gelesen, und muß dazu sagen: Er geht da hauptsächlich aus von der neuzeitlichen Philosophie, vieles ist mir auch neu (und fremd und interessant), Tierschutzethik. Und wenn aber dann einer Kants „Du kannst, denn Du sollst“ genau falsch verstanden hat als „Du sollst, denn Du kannst“, was fundamental ist zu einem auch nur ansatzweisen Verständnis … nicht einmal Kants, aber dessen Folgen für die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften, also etwa Popper, dann ist er für mich als Philosoph nicht ernstzunehmen. Wie gesagt, seine philosophiejournalistischen Beiträge, etwa zum mir bis dahin völlig unbekannten Singer, lese ich durchaus interessiert.



Zur Menschenpark-Rede – Lange nicht mehr draufgeguckt, abgehakt. Damals hatte für mich Ernst Tugendhat alles gesagt, leider hinter Paywall:(:

„Ich muss gestehen, dass ich nicht verstanden habe, worum es dem Autor überhaupt geht. Was will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas in diesem Aufsatz, was wir jetzt besser verstehen würden? Irgendetwas, das er geklärt hätte? Ich habe nichts gefunden.“[1]

Im Sinne Poppers hatte Sloterdijk nichts Positives gesagt. Nichts, das man bejahen könnte, nichts, das man verneinen müsste. Mit einem bösartigen, aber treffenden Wort könnte man sagen, er habe „geraunt“. Assheuers Replik fand ich nur noch peinlich, Sloterdijks Stellungnahme äußerst schwach (verschwörungstheoretisch, ohne Belege, nicht einmal nur Indizien, ist mir als Alubehüteter zu dünn), aber in der Sache Tugendhat bestätigend.

Im Übrigen hat Nietzsche noch ganz andere Klopper rausgehauen. Das berüchtigte „Der Wille zur Macht“ aus der Hand einer überzeugten Nationalsozialistin besteht immerhin aus Originalzitaten. Dennoch liest auch @Zerd noch heute Nietzsche.
Nietzsche, auf den sich Sloterdijk bezieht, ist mit seiner doppeldeutigen Kritik, in welche die Grenze von Ironie/Sarkasmus und Nihilismus (Menschen- und Gottverachtung) ein wenig komplizierter als die Züchtungstheorie Sloterdijks, via "Anthropotechniken" den systemverträglichen homo conditionabilis zu "designern". Genau diese Züchtungstheorie macht Sloterdijk zu einem Ideologen des Populismus, dessen nebenamtliche Tätigkeiten in Fernsehen, prominenten Publikationsorganen und gut bezahlten Rednertätigkeiten und Gastaufenthalten sein hauptamtliches Salär um einiges übertreffen dürfte. Im Unterschied dazu ist Precht nicht verbeamtet und lebt als freischaffender Autor ausschließlich von seiner Haupttätigkeit, ohne sich auch nur andeutungsweise irgendwelchen Dreckspositionen anzunähern.
 
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