Gerade lief 50 Shades of Grey im ZDF; ich hatte es vorher weder gesehen noch gelesen.
Als da ein etwas gestörter (zu seiner Entschuldigung: er war superreich!) Sadist seine gepeinigte Anna anbrüllt, dass er das machen müsse, weil er doch so sei, hat es mich daran erinnert, dass ich hier seit etwa über einer Woche einiges über die vermeintliche Sloterdijk-Debatte, die Radio-Sendung mit Adorno & Co und sonstiges schreiben wollte, das aber bei nahezu jedem zusätzlichen Beitrag so sehr anwuchs, dass es irgendwann zu viel geworden ist, um so zwischendurch damit anzufangen und es zuletzt einer traumatischen Fernseherfahrung bedurfte, meine Bedenken hinsichtlich zwangsläufig ausbleibender Vollendung zu zerstreuen.
Dieser eine Link zur Sloterdijk-Debatte (ich habe die Seite fast vollständig durchgelesen - unter Schmerzen!) erinnerte mich daran, dass Nietzsche eine wunderbare Bezeichnung benutzt hatte für Leute, die seinen Übermenschen derart eigenwillig interpretierten. Es dauerte eine Weile, aber dann habe ich es doch noch im Ecce Homo gefunden:
Das Wort »Übermensch« zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgerathenheit, im Gegensatz zu »modernen« Menschen, zu »guten« Menschen, zu Christen und andren Nihilisten – ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein sehr nachdenkliches Wort wird, ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werthe verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustra's zur Erscheinung gebracht worden ist, will sagen als »idealistischer« Typus einer höheren Art Mensch, halb »Heiliger«, halb »Genie« ... Andres
gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt; selbst der von mir so boshaft abgelehnte »Heroen-Cultus«, jenes grossen Falschmünzers wider Wissen und Willen, Carlyle's, ist darin wiedererkannt worden.
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Eigentlich sollte es eine Sache der Unmöglichkeit sein, Nietzsches Übermenschen auf einen "idealistischen Typus" von Mensch festzunageln, weil der Mensch für ihn etwas ist, das in Form eine ewigen Wiederkehr des Gleichen permanent überwunden wird und untergeht. Schon im Zarathustra schreibt er ziemlich eindeutig über die "höheren Menschen":
Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit, die grosse Thorheit: ich stellte mich auf den Markt.
Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem....
...
Die Sorglichsten fragen heute: »wie bleibt der Mensch erhalten?« Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: »wie wird der Mensch
überwunden?«
Der Übermensch liegt mir am Herzen,
der ist mein Erstes und Einziges, – und
nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste –
Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang....
...
Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muss – über euch hinweg tanzen! Was liegt daran, dass ihr missriethet!
Wie Vieles ist noch möglich! So
lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht!
Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen,
lernt mir – lachen!
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Nietzsches Übermensch ist derjenige, der mit einem heiligen Ja des leidenschaftlichen amor fati zu dieser permanenten Veränderung des ewigen Übergangs, Untergangs und Überwindens steht:
Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen –, sondern es lieben ...
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Genetisches Design und Pränataldiagnostik sind vor diesem Hintergrund das exakte Gegenteil von Amor fati, nämlich das Fliehen vor dem eigenen Schicksal, kein lachendes Ja, sondern vielmehr ein betrübtes weinerliches Nein dazu.
Bei dieser einen Diskussion mit Horkheimer und Adorno fand ich eine Aussage von Adorno kurz vor Schluss besonders bedeutsam. Er spricht dort davon, dass es vor allem die "Ja-aber-Haltung" der eigentlich kritischen Bevölkerungsanteile sei, die den Status Quo verteidigt und erhält, viel mehr als die eigentlichen Profiteure. Und das ist auch heute noch so im Hinblick auf den Neoliberalismus, der allenfalls 10-15% der Bevölkerung Vorteile bringt, aber vom großen Rest vor allem mit ihrer "Ja-aber-Haltung" gestützt und getragen wird. Und auch hier in unserer Diskusion trifft man immer wieder auf diese "Ja-aber-Haltung", zBsp wenn Mendelssohn davon spricht, dass weniger Tourismus (zwangsläufig) dazu führen würde, dass nur noch die Elite verreist u.ä.
Wenn man die Veränderung und Überwindung nicht als immanenten Teil der eigenen Existenz begreift und akzeptiert, wird das instinktive Sicherheits-, Geborgenheits-, Indentitätsbedürfnis immer genügend gute und bessere Gründe finden, das Bestehende zu erhalten oder gar das Vergangene wieder herbeizusehnen. Solange diesem rückwärtsgewandten Konformismus nicht in aller Deutlichkeit (ohne Ja-aber) abgeschworen wird, ist kaum eine größere Veränderung in unserer Entwicklung zu erwarten.
Und was mir besonders wenig Hoffnung auf eine baldige Abkehr von diesem Weg macht, ist der Umstand, dass heutzutage zwar so viele nahezu dasselbe tun, aber es als etwas ganz anderes und individuelles ansehen, nur weil sie dabei eine andere Frisur oder andere Kleider tragen, vielleicht andere Vorlieben haben und anders über ein und dasselbe reden. Wenn es wirklich darauf ankommt, etwas zu verändern, sich zu überwinden, unterzugehen, überwiegt jedesmal doch wieder das "aber"...
"Ich bin eben dieser gestörte Sadist!"